Moritz Kai Andreas: Poetologie eines scheiternden Schreibens? Karl Marx Kritik der politischen Ökonomie in „rein Gold. ein bühnenessay“

Beinahe jeder Satz in Elfriede Jelineks „rein Gold. ein bühnenessay“ scheint ein Urteil auszusprechen. Scheinbar kein Satz kann dabei auf sein Urteil, seinen Gegenstand oder das Subjekt, das ihn formuliert, festgelegt werden. Das weiß der Text und zeigt, dass er es weiß: Als Kunstwerk ist ihm das begriffliche Denken nicht unmittelbar eigen. Durch den paratextuell vertretenen essayistischen Anspruch wird es gleichzeitig betont. Mit jedem Satz legt der Text Steine in den Weg, die sich nach und nach zu einem unüberwindbaren Berg anhäufen. Bereits diese erste Annäherung an die Schwierigkeit des Texts verweist auf ein Kunstwerk, das zu seinen Gegenständen in Beziehung tritt, indem es zu ihnen im Widerspruch steht. Fraglich ist, inwiefern dieses Verhältnis sich aus zum Kunstwerk Heterogenen bildet, aber auch, ob sich in dieser diskursiven Zusammensetzung von heterogenem ein dem Kunstwerk eingelagerter homogener Gehalt ausmachen lässt. Die Frage, die die folgende Analyse an den Text stellt, ist, wie sich das Kunstwerk zu den gesellschaftlichen Verhältnissen verhält, die den Steinbruch darstellen, aus dem die Sätze als „Trümmer der Empirie“1 rollen: inwiefern also die Schwierigkeit des Texts eine Schwierigkeit der Gegenstände des Texts und damit des Schreibens selbst ist.

Die Steine oder eher: die Steinbrocken, lassen sich nicht aus dem Weg räumen, nicht über- oder zerlesen und schon gar nicht ignorieren, wodurch sie sich unbemerkt erst recht zu unüberwindbaren Klötzen versammeln. Dagegen lässt sich genetisch hinter sie zurückgehen, sodass sie zum Teil auf ihre gemeinsamen Zusammenhänge zurückzubeziehen und -datieren sind. Und zwar zunächst ohne jede Schwierigkeit. Jelinek hat, wie sie dieses Verfahren in einem Gespräch 1993 bezeichnete, ihre „Quellen gelüftet“:2 Darunter fällt neben der paratextuell bereits angekündigten Oper „Richard Wagner[s]: Der Ring der Nibelungen“ auch „Karl Marx: Das Kapital“ und „Karl Marx und Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest“. Die hier fehlende Angabe der Erscheinungsjahre lässt bereits auf dieser ersten, oberflächlichen Ebenen einen Zusammenhang durchscheinen: Der Arbeitsprozess Wagners (1813-1883) an „Der Ring des Nibelungen“ begann 1848 in Dresden und zog sich bis November 1874 beziehungsweise 1876 mit dessen Erstaufführung in Bayreuth.3 Indes wurden Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) im Dezember 1847 durch den Bund der Kommunisten mit der „Abfassung eines […] Parteiprogramms“4 beauftragt, das sie im Januar 1848 fertiggestellt hatten, und das bis März in London gedruckt werden sollte, bevor es seine Rolle in den Revolutionen von 1848 spielen sollte. Beinahe zwanzig Jahre später erschien 1867 die erste Auflage von „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“.5 Ist in einem ersten Schritt die Genese dieser Prätexte beschrieben, lässt sich in einem zweiten deren gemeinsame Konstellation im Text auf den ästhetischen Charakter der Aktualisierung, die sie in dieser neuen Zusammensetzung ihrer historisch gewordenen Fragmente erfahren, abklopfen.

1 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019, S. 254.

2 Jelinek, Elfriede / Berka, Sigrid: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Modern Austrian Literature 26/1993, S. 127-155. S. 131.

3 vgl. Haymes, Edward: Wagner’s Ring in 1848. New Translations of The Nibelung Myth and Siegfried’s Death. New York: Camden House 2010. S. 2.

4 Marx, Karl / Engels, Friedrich: Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1872. In: Institut für Marxismus-Leninismus (Hg.): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz Verlag 1974. S. 573-774. S. 573.

5 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Institut für Marxismus-Leninismus (Hg.): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz Verlag 1962.

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