Judith Kaltenbrunner: Verlorene Stimmen? – Zur Ästhetik der Sprachlosigkeit in postdramatischen Sprach-Spielen von Elfriede Jelinek und Peter Handke.

für den Nachwuchsworkshop 2022

Diese Masterarbeit setzt sich mit der narrativen Inszenierung von Sprachlosigkeit in literarischen Sprach-Spielen von Elfriede Jelinek und Peter Handke auseinander. Anschließend an Hans-Thies Lehmanns Thesen zum postdramatischen Theater1 rücken zwei Texte ins Zentrum, die – im Spannungsfeld zwischen Drama und Erzählen operierend – Sprachlosigkeit versprachlichen, indem sie diese auf besondere Weise spürbar machen. Dies ist zum einen Peter Handkes Nebentext- bzw. ‚Schau‘-Erzählung „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ (1992), zum anderen Elfriede Jelineks polyphoner Klangroman „Die Schutzbefohlenen“ (2018). Beide Texte erkunden auf ihre Weise neue literarische Möglichkeiten der Versinnlichung von Sprachlosigkeit, die in der bisherigen Forschung noch unzureichend aufgegriffen und analysiert wurden. Während Handke mit der erzählerisch evozierten Imagination visualisierten Schweigens experimentiert, entfaltet Jelineks Text eine stumme, narrative Inszenierung gehörter Sprachlosigkeit und verfolgt damit eine komplementäre, auf einer paradoxen Akustik basierende Strategie. Die intermedialen und multimodalen Aspekte dieser zwei paradigmatischen Ästhetiken der verlorenen Stimme (Handke, Jelinek) werden in einem textnahen Zugang untersucht, der induktiv und exemplarisch angelegt ist.
Ein erster Arbeitsschritt widmete sich der Analyse des literarisch imaginierten, ‚theatralen‘ Seh-Sinns in Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“. Hier ließ sich zeigen, dass die wortreich inszenierte Visualität der erzählten (Bühnen-)Welt das Abwesende und Unsagbare über eine komplexe sinnliche Erfahrung wahrnehmbar macht, die auf einer dynamischen Spannung zwischen Bildlichkeit und Sprachlosigkeit beruht. Hierzu tragen das im Text inszenierte Hin-Schauen bzw. Hindurch-Schauen auf den Ort der Leere ebenso bei wie die Bildhaftigkeit der beschriebenen, aber immer schweigenden Gestalten und die doppelte Notwendigkeit des lesend zuschauenden Publikums.
In Analogie wie auch Kontrast hierzu werden zurzeit die verschiedenen Aspekte des inszenierten Hör-Sinns in Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ untersucht, wo Sprechen und Hören einander bedingen und der Mangel an beidem – wiederum in forcierter, gedoppelter Weise – kaum zu überhören ist. Die Sprachlosigkeit präsentiert sich hier u.a. als Leere an Aussagen inmitten einer paradoxen Polyphonie stummer Stimmen: In Form von chorischen Reden bzw. Gesängen wird im Leseprozess ein innerer Widerspruch zum Sinn des Gesprochenen berührt, der nur bei genauerem (literarisch gelenktem) Hinhören geklärt werden kann. In hohem Maße akustisch aufgeladen, wird beim Lesen die Imagination einer Fülle an Stimmen evoziert und eine Ästhetik entfaltet, die gerade durch ihre Stimmlosigkeit über die ästhetischen Grenzen einer Hör- bzw. Schau-Spiel-Inszenierung weit hinausreicht. Innerhalb dieses Analyserahmens wird im Anschluss an die aktuelle Jelinek-Forschung 2, 3, 4 zudem erkundet, welchen Stimmen zugehört und in welchen Stimmen (über andere bzw. für andere) gesprochen wird. Ziel dieser Analyse ist es aufzuzeigen, wie Jelinek in „Die Schutzbefohlenen“ Sprachlosigkeit über den Körper der Schrift und der Lesenden auf eine Weise zum Klingen bringt, die sich u.U. als postdramatisches Erzählen bezeichnen ließe.

1 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2015.

2 Pełka, Artur: Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama. Bielefeld: Transcript 2016.

3 Ronge, Verena: Polyphonie der Stimmen – Polyphonie der Geschlechter. Die Bühne als Hör-Raum im postdramatischen Theater Elfriede Jelineks. In: Birkner, Nina und Andrea Geier u.a. (Hg.): Spielräume des Anderen. Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater. Bielefeld: Transcript 2014, S. 129-142.

4 Wilkinson, Jane: Dialogicity, Monologicity and the Crisis of Hospitality in Elfriede Jelinek’s „Die Schutzbefohlenen.“ In: Austrian Studies Vol. 26/2018, S. 91-105.

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