Manfred Wadsack: Musik als Instrument. Zur Funktionalisierung ‚autonomer Musik‘ in Elfriede Jelineks „Clara S.“ und „Die Klavierspielerin“

Bachelorarbeit

Der musikalisch-schöpferische Akt ebenso wie die performative musikalische Darbietung wird gemeinhin mit Individualität, Expressivität und Kreativität assoziiert. Das romantisierte bürgerliche Ideal einer autonomen, gesellschaftlich entkoppelten Kunst ist aber nur oberflächlich haltbar. Nach Theodor W. Adorno ist Musik sprachähnlich, ein organisiertes, über die lautliche Ebene hinausweisendes System, das zwar auf eine genuin intentionslose Sprache und damit eine tendenziell unverzweckte Ausdrucksform abziele, jedoch im gesellschaftlichen Kontext massiv funktionalisiert und ideologisiert werde. Musik ist nicht nur das Ergebnis des Gebrauchs von Instrumenten, sondern kann auch selbst als Instrument gebraucht werden.
In Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin wird klassischer Musik eine mythisierte Rolle zugeschrieben, die vordergründig eine idealtypische künstlerische Selbstverwirklichung und ehrerbietige Reverenz an eine als qualitativ hochwertig erachtete Kunstform zur Schau stellt, tatsächlich jedoch im Dienst schichtenspezifischer Distinktion des Bürgertums steht. Zudem beschränkt sich die Auseinandersetzung auf eine rein interpretative, niemals selbstschöpferische Ebene. Diese Einengung des Spektrums musikalischen Schaffens begründet sich in der scheinbar untrennbaren Verknüpfung des Mythos Musik mit dem Mythos des männlichen Genies. Die originale Tat werde durch den Mann repräsentiert, die Frau hingegen durch originalgetreue Reproduktion männlicher Werke am Klavier diszipliniert. Hiermit eröffnet sich eine insbesondere im Stück Clara S. musikalische Tragödie zentrale genderspezifische Perspektive auf Musikausübung.
Im permanenten Diskurs über eine vorgeblich autonome Musik als reinem ästhetischen Selbstzweck werden in Clara S. und Die Klavierspielerin ausgesprochen nüchterne Intentionen bemäntelt, die somit in diametralem Gegensatz zur äußeren Präsentation stehen. Dieses inkonsistente Auseinanderdriften von Sein und Schein konstituiert den bürgerlichen Mythos von Musik, welcher in der folgenden Untersuchung offengelegt werden soll. Die theoretischen Ausgangspunkte dafür bilden die kulturkritische Perspektive Theodor W. Adornos und der semiologisch begründete Mythos-Begriff von Roland Barthes. Barthes geht davon aus, dass der Mythos seinem Objekt die Geschichte entzieht und damit gewisse gesellschaftliche Diskurse und Zustände als naturgegeben präsentiert – eine mythisierende Operation, auf die hin auch Adornos Thesen zu untersuchen sind. Durch diese theoretische Fundierung und eine sozialgeschichtliche Kontextualisierung wird die Basis gelegt, um den bürgerlichen Mythos von Musik, wie er von Jelinek ausgestellt wird, in eine Reihe von Teilmythen zu zerlegen und anhand der Primärtexte zu analysieren, welche Funktionen die Mythen in den jeweiligen interpersonellen und gesamtgesellschaftlichen Konstellationen innehaben und wie Jelinek diese in der ihr eigenen, literarisch-aufklärerischen Intuition destruiert.

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31.7.2014