Claudia Baricco: Elfriede Jelinek lesen

Als ich Elfriede Jelineks Texte Bambiland und Babel zu übersetzen anfing, stellte sich bei mir folgende Frage: „Haben die Nobelpreisjuroren ihre Texte wirklich gelesen?“ Ich war von einer Antwort fest überzeugt und die lautete: höchstwahrscheinlich nicht; jedenfalls sicherlich nicht viele. Um Jelinek einen Nobelpreis zu verleihen, ist es unumgänglich, ihre Texte in der Originalfassung zu lesen. – Erst vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass der alte Nobelpreisjuror Knut Ahnlund eingestanden hat, dass er, als Jelinek den Preis bekam, noch keine Zeile von ihr gelesen hatte. „Wer hat Jelinek gelesen?“, fragte ich mich damals. Ich selber jedenfalls nicht, obwohl ich schon einige Jahre davor im Rahmen meiner Tätigkeit als Filmuntertitelschreiberin einen Dokumentarfilm über die Autorin übersetzt hatte und dann voller Begeisterung ein paar Zeitungsartikel über ihr Werk und Denken geschrieben hatte. Diese erweckten übrigens sehr großes Interesse in Buenos Aires. Nach der Nobelpreisvergabe wollten aber alle etwas von Jelinek haben, und einige anscheinend sogar lesen. Öfters habe ich damals in der U-Bahn in Buenos Aires junge Frauen gesehen, die sich bemühten, den auf Spanisch erschienenen Roman Lust zu lesen. Ich nahm es mir auch vor, aber trotz mehrerer Versuche habe ich es leider nur bis Seite 4 geschafft. Daher wurde das Hauptziel meiner Übersetzungsarbeit nur eines, nämlich Jelinek auf Spanisch lesbar zu machen. – Nein, nicht nur das: wichtig war mir auch, ihren Humor zum Vorschein zu bringen. Also musste ich schließlich Jelinek in der Originalfassung lesen – und es gibt bestimmt kein gewissenhafteres, obsessiveres Lesen als das des Übersetzers. Für Bambiland musste ich auch Die Perser in der Übersetzung von Oskar Werner lesen. „Des Rhythmus wegen“, laut der einzigen von der Autorin erteilten Anweisung für die Arbeit. Aber nicht nur deswegen, sondern auch, wie es sich später herausstellte, weil die Zitate aus Werners Übersetzung eine Auslöser-Funktion besitzen. Sie sind Auslöser für Jelineks Exkurs über den Krieg und strukturieren dadurch den Text, bzw. bauen ihn auf. So wurde meine Arbeit teilweise doppelt: lesen und übersetzen von Übersetztem, denn ich konnte nicht einfach die entsprechenden Zitate aus der vorhandenen spanischen Übersetzungen übernehmen, da Jelinek – und damit sage ich nichts Neues – sie modifiziert, dekontextualisiert, collagiert und zu ihren Zwecken verwendet. Trotz allem sind sie vorhanden, die Zitate aus Die Perser, und tragen ihren Rhythmus, ihren Ton bei, in einer Abwechslung zwischen der Sprache des tragischen Pathos und umgangssprachlichem Sprachfluss. Die Zitate in Jelineks Text aufzuspüren, wo sie öfters völlig verknappt sind, diese Textstellen dann in Werners Übersetzung zu finden, sie miteinander zu vergleichen, in Zusammenhang zu stellen, in dem neuen Zusammenhang zu interpretieren und sie neu zu übersetzen unter Berücksichtigung von Ton und Rhythmus, wurden bei Bambiland zu Hauptmomenten des Übersetzungsprozesses. Wie gesagt, es ist nichts Neues, bei Jelinek von Intertextualität zu sprechen. Aber es bleibt eine Frage – und noch eine Frage eigentlich – das Lesen und Übersetzen von Jelinek hat immer wieder Fragen bei mir aufgeworfen -: Darf man als literarische Übersetzerin dieser Jelinekschen Intertextualität eine Paratextualität entgegenstellen? Irgendwann war ich von einer Antwort fest überzeugt, welche lautete: auf jeden Fall. In der Form eines Fußnoten-kritischen Apparats habe ich dann eben jene Paratextualität eingegliedert, gegen die Puristen, die das als Verstoß gegen eine Art literarischen Datenschutz empfinden könnten. Schon Jelinek zu lesen ist gar nicht einfach. Des öfteren kann man Textstellen erst nach mehrmaligem Lesen ganz erschließen, aber dazu noch Die Perser in Jelineks Text und die Fußnoten lesen? Ist das nicht zu viel? Kann man so Jelineks radikalen Umgang mit der Sprache in einer anderen Sprache lesbar machen? Ich glaube ja. Bestimmt wird ihre Sprache dadurch nicht leicht lesbar oder lesbar für alle, aber doch lesbar. Um Jelineks Sprache auf Spanisch leicht lesbar zu machen, könnte aber auch ein Verleger der ganz zufällig die fertige und schon druckbereite spanische Übersetzung durchblättert auf die Idee kommen, die Übersetzung einem letzten Korrekturvorgang – ohne Nachfrage bei der Übersetzerin – zu unterziehen, im Glauben, dass ein „vernormen“ oder „sanfter machen“ der Sprache den Text lesbarer machen würde. (So ist es tatsächlich geschehen.) Was zu fremd klingt, muss offenbar „vernormt“ werden. Und Schluss. Wortspiele mit Worten desselben Stammes werden auf Spanisch z.B. als kakophonisch empfunden. Ändern. Und so weiter und sofort. Frau Jelinek soll sich darüber freuen, dass dieser Verleger nicht im deutschen Sprachraum tätig ist. Sie hat schon genug Gegner – wie den alten Knut. Oder um es vorsichtiger zu formulieren: Sie macht zumindest vielen Lesern, die eigentlich noch gar keine Leser sind, sondern vielmehr als „Duchblätter-Leser“ bezeichnet werden können, Angst. Hoffen wir, dass trotz der erwähnten Teileingriffe diese spanische Übersetzung von Bambiland und Babel dazu beiträgt, dass diese Texte ihren Weg zu neuen und vielen spanischsprechenden Lesern finden. Und nicht nur bis Seite 4. Auf Entdeckungsreise in Jelineks radikaler Sprache.

Buenos Aires, 19.6.2006.

Claudia Baricco, geb. 1962 in Buenos Aires, Argentinien. Studium der Literaturwissenschaft an der Universität Buenos Aires, Germanistik und Filmphilologie-Studium an der LMU – München. Seit 1997 Tätigkeit als freiberufliche Literaturübersetzerin (Prosa und Theater). Seit 2003 leitet sie die Filmuntertitlungsfirma ZENIT. Autorin von Erzählungen.