Claudia Dürr u. Tasos Zembylas: Sichtbares und sichtbar Machbares

Zu einigen Möglichkeiten des Mediums Internet für die Literatur

Ohne zu wissen, welche Absichten und Erwartungen Elfriede Jelinek mit der kapitelweisen Veröffentlichung ihres Romans Neid auf ihrer Homepage hegt und wie sich die Interaktion zwischen Autorin und LeserInnen in den nächsten Wochen entwickeln wird, möchten wir antizipativ einige Aspekte und Fragen betreffend des Publikationsmediums Internet diskutieren.
AutorInnen können das Internet in ähnlicher Weise verwenden wie ein Printmedium, z.B. für die Publikation eines fertigen Werkes als Ganzes oder als Fortsetzungsroman. Darüber hinaus eröffnet es jedoch neue Möglichkeiten, ein Werk als dynamischen Prozess und nicht als ein unveränderbares, kompaktes Endprodukt darzustellen. Die Präsentation eines „work-in-progress“ kann den Schreibprozess transparenter und besser nachvollziehbar machen, wenn sie Verworfenes und Verändertes nicht tilgt, sondern die Spuren der Bearbeitung als integrierten Teil des Schreibens festhält. Künstlerische Kreativität offenbart sich dann als eine lebendige und fragile Denkbewegung, als Suche nach einer angemessenen Form und nicht mehr als Eigenschaft eines „genialen“ Individuums. Die Wahrnehmung und Lesarten eines Textes würden sich durch den Fokus auf die Prozessualität verändern: Wir würden vermutlich weniger auf die Interpretationsmöglichkeiten des vorliegenden Textes und mehr auf die immanente Möglichkeitsvielfalt der Gestaltentwicklung achten. „Work-in-progess“ zu veröffentlichen macht aus der hier entworfenen Perspektive nur dann Sinn, wenn die – ansonsten retrospektiven – LeserInnen-Stimmen eine produktive Funktion im Textentstehungsprozess einnehmen. Dies ist selbstverständlich eine autonome Entscheidung der einzelnen AutorInnen.
Für die LeserInnen kann das Internet als Plattform für den Austausch ihrer Lektüreerfahrungen dienen, und zwar unabhängig vom technischen Medium der Publikation des jeweiligen literarischen Textes (siehe z.B. http://www.readme.cc). Es schafft einen niedrigschwelligen und egalitären Zugang, wo sich im Gegensatz zu klassischen Medien theoretisch jeder artikulieren kann. In der literarischen Öffentlichkeit entsteht somit eine Polyphonie, die auch die Textproduktion bereichern kann.
Ohne eine Glorifizierung des Internets schlagen wir hier vor, die Frage nach der Wahl des Veröffentlichungsmediums – aus gegebenem Anlass – soziologisch zu betrachten. Wir sehen also den Entschluss einer Autorin, das Publikationsmedium zu wechseln – nämlich vom Verlag zum Netz – kontextspezifisch: Eine Autorin kann das Internet nützen und von seinen Möglichkeiten profitieren, wenn sie in der Position ist, auf Einnahmen (Verkaufshonorar, Tantiemen von Verwertungsgesellschaften etc.) zu verzichten und sich zugleich der öffentlichen Aufmerksamkeit (hoher Bekanntheitsgrad, Verzicht auf Verlagswerbung) sicher sein kann. Diese privilegierte Position erreichen die wenigsten. Viele AutorInnen, die im Internet publizieren, werden von der literarischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen bzw. sehen sich eher mit der Frage konfrontiert, ob sie denn keinen Verlag gefunden hätten. Auf Grund der gegenwärtigen institutionellen Struktur des Literaturbetriebs sind das Verlagswesen und die damit verbundene Apparatur (Werbemaßnahmen, Öffentlichkeitsarbeit, Kontakte zu diversen MultiplikatorInnen) als Pforte zur Öffentlichkeit und als mittelbare Bedingung für die Einkommenssicherung der AutorInnen (noch) nicht einfach durch das Internet ersetzbar.

24. April 2007

Claudia Dürr promovierte 2004 im Fachbereich Neuere deutsche Literatur, ist derzeit Post-Doc-Fellow des bm:bmwk und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik Wien. mailto:claudia.duerr@univie.ac.at

Tasos Zembylas ist A.o. Univ.-Prof. für Kulturbetriebslehre und Vorstandsmitglied des Research Network in Sociology of Art * European Association of Sociology. mailto:zembylas@mdw.ac.at