Stefan Krammer: Ein virtueller Sündenfall. Oder: Jelinek für die Schule

Elfriede Jelinek hat – ob sie es nun will oder nicht – längst Eingang in den Deutschunterricht gefunden. In den gängigen Literaturgeschichten für die Schule ist sie mit ihren Texten vertreten, zum einen als Vorzeigedame für Frauenliteratur im besten Sinne (Schacherreiter 2005a, S. 366-370; Rainer 2005, S. 184f; Killinger 2002, S. 288-291), zum anderen als Dramatikerin in der Tradition eines politisch-aufklärerischen Theaters (Schacherreiter 2005b, S. 58-68; Rainer 2005, S. 496-498; Killinger 2002, S. 288-291). Indem Jelinek nun auch noch den Nobelpreis erhalten hat, wird sie zum wissenswerten Bildungsgut, das jede Schülerin und jeder Schüler spätestens (oder zumindest) bei der Matura parat haben sollte. Nicht nur die Stilisierung der Autorin selbst wird im Deutschunterricht diskutiert, sondern es werden auch ihre Texte gelesen, allen voran die mittlerweise zum Schulklassiker gewordenen Liebhaberinnen, es werden ihre Theaterstücke (beispielsweise in den jugendlichen Inszenierungen à la Stemann) besucht oder auch Die Klavierspielerin zumal in Form von Hanekes Romanverfilmung rezipiert. Elfriede Jelinek gibt also für den Deutschunterricht viel her, insbesondere auch in Hinblick auf die zu vermittelnden Mediennutzungs- und Medienkulturkompetenzen, wie sie in den didaktischen Grundsätzen des österreichischen Lehrplans an Allgemein bildenden höheren Schülen für das Unterrichtsfach Deutsch vorgesehen sind. (Lehrplan, S. 2f)
Spätestens seit Elfriede Jelinek sich und einige ihrer Texte nun auch im Internet präsentiert und dafür eigens eine Homepage eingerichtet hat, können die Schülerinnen und Schüler nun auch von ihren Computern aus die Nobelpreisträgerin erschließen. Für den Unterricht eignet sich der virtuelle Rundgang in Jelineks Website insbesondere für die Auseinandersetzung damit, auf welche Art und Weise sich hier eine Autorin darstellt, welche medialen Formen sie dafür nützt, was sie dabei von sich preis gibt und welche Informationen ausgespart werden (insbesondere etwa in Vergleich zu anderen persönlichen Homepages). Über die formale Erschließung des jelinekschen Internetauftritts hinaus, bieten auch die von der Autorin ins Netz gestellten Inhalte eine (kostenlose) Fundgrube für den Deutschunterricht. Die Textauswahl auf Jelineks Homepage reicht von Ausschnitten bereits publizierter Arbeiten über erstmals veröffentlichte Texte bis hin zu Statements der Autorin zu Kunst, Politik und Gesellschaft. Dass nun auch Jelineks neuer Roman Neid im Internet, und zwar nur dort, zu lesen ist, kann für den Deutschunterricht produktiv genutzt werden.
Über das Internet kann ein Einblick in die jelineksche Dichterstube gewährt werden, in der die Autorin ihren Roman in Fortsetzung weiterschreibt. Derzeit sind zwei Kapitel des Romans ins Netz gestellt. Wie und ob der Text weitergeht, das liegt in der Hand der Autorin, ist ihre ganz private Angelegenheit. Und zwar öffentlich im Internet ausgetragen. Für Jelinek ist dabei das Internet eine besondere Form von Öffentlichkeit, weil sie sich als eine virtuelle offenbart: „Wenn alle etwas lesen können, dann kann es eben auch keiner. Ich schreibe den Text, aber gleichzeitig kann ich mich auch hinter ihm verstecken. Denn er ist ja sozusagen nichtgeschrieben.“ (Jelinek 2007, S. 35) In diesem Sinne wird der virtuelle Raum auch zum Schutzhaus der Autorin, in dem sie sich mitunter auch ganz von der privaten Seite zeigen darf. Nicht ohne Grund betitelt Jelinek ihren Text als „Privatroman“: Privat ist der Roman nicht nur deswegen, weil er sozusagen im Eigenverlag erscheint, sondern weil – nach Angaben der Autorin – auch mehr Privates in den Roman einfließt als in ihren anderen Texten. (Ebda) Bei der Spurensuche nach dem Ich, mit dem die Autorin spricht, ist aber allemal zu berücksichtigen, dass sich hier die Fiktionalität des Textes und die Virtualität des Raumes, in die der Text gestellt wird, gegenseitig ausspielen.
Folgende didaktische Überlegungen zu Elfried Jelineks Internetroman Neid sind nicht als Unterrichtsmodelle für den unmittelbaren Einsatz im Deutschunterricht konzipiert, sondern vielmehr als Anregung für einen Literaturunterricht in der Oberstufe (11./12. Lernjahr) zu verstehen, der auf literatur- und mediendidaktischen Erkenntnissen beruht (u.a. Wermke 2000, Abraham/Kepser 2005, Kron/Sofos 2003) und dabei das Lesen im medialen Wandel zum Thema macht. Nicht in erster Linie der Inhalt des Romans, sondern vielmehr die Medialität, in der er sich präsentiert, könnte für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern interessant sein. Denn wenn hier Jelinek ein Stück digitaler Literatur vorlegt, dann gilt es zu überlegen, inwiefern dieser Medienwechsel auch literarische Prozesse verändert. Diese sind nicht nur auf der Ebene der Textproduktion und -rezeption zu untersuchen, sondern ebenso in Hinblick auf die formale wie ästhetische Konzeption des Romans. Als kontrastive Folie können hier jene Erfahrungen nutzbar gemacht werden, die die Schülerinnen und Schüler bisher im Umgang mit literarischen Texten gemacht haben. Die zentrale Frage wird dabei sein, inwiefern sich Buchliteratur von Netzliteratur unterscheidet. Die Diskussion darüber soll durch eine praktische Übung angeregt werden, in der die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Leseverhalten im Umgang mit digitaler Literatur reflektieren. Dazu müssen sich diese an den realen Lernort des Computerraums der Schule begeben, um von dort aus in den virtuellen Lernort des Internets entschwinden zu können. Der Lernort, wie er hier in Anlehnung an Gutheil/Mügge (2000) verwendet wird, soll dabei gleichsam auch Lese-Räume eröffnen, wobei der Monitor zur Pforte in die (nicht nur) literarische Cyberwelt wird.
Eine Aufgabe der Schülerinnen und Schüler könnte darin bestehen, sich eine Unterrichtseinheit lang mit Jelineks Internetroman zu beschäftigen und dabei möglichst viele Informationen aus dem Text und über den Text zu sammeln, wobei ihnen das Internet als einzige Informationsquelle dient. Die Offenheit der Aufgabenstellung ist von besonderer Bedeutung, um die Schülerinnen und Schülern nicht in ihren Strategien einzuschränken, wie sie sich an den Text nähern, diesen zu erschließen versuchen. Allenfalls könnten sie den Hinweis erhalten, dass insbesondere die unterschiedlichen Zugänge jedes und jeder einzelnen zum jelinekschen Text von Bedeutung sind, um in der Vielfalt auch die Komplexität des Textes in einer Zusammenschau erfassen zu können. Bevor in einer weiteren Unterrichtseinheit die gesammelten Informationen über den Roman zusammengetragen werden, sollen die Schülerinnen und Schüler sich zunächst mit ihrem Leseverhalten im Umgang mit dem digitalen Text in einer Rückschau auf die vergangene Unterrichtseinheit auseinandersetzen. Die Reflexionsphase könnte durch folgende Leitfragen unterstützt werden: Wie verändert das Medium Internet dein Leseverhalten? Inwiefern ändert sich dieses Leseverhalten mit dem Wissen darüber, einen literarischen Text (noch dazu von einer Nobelpreisträgerin) vor sich zu haben? Gestaltet sich für dich das Bildschirmlesen anstrengender als das Lesen eines Buches? In Zusammenhang damit könnten folgende konkretisierenden Fragen gestellt werden: Wie viel an Textmenge konntest du bewältigen? Wie schnell konntest du dir einen Überblick über den Aufbau des digitalen Romans verschaffen? Hättest du dir die einzelnen Kapitel lieber ausgedruckt und dann gelesen? Inwiefern leitete die lineare Struktur der Textvorlage deinen Leseprozess? Inwiefern war die Verlockung gegeben, die Seiten der digitalen Romanvorlage zu verlassen und auf anderen Internetseiten zu surfen? Wurden diese Abschweifungen auch in produktiver Weise genutzt?
In der Reflexion über den digitalen Leseakt gilt es herauszufinden, auf welche Weise Jelineks Roman den Bedürfnissen der Mediennutzung der Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann. Die Auseinandersetzung damit ist eng mit der Frage verbunden, inwiefern Jelinek mit ihrem Roman auch die technischen Möglichkeiten des Mediums Internet zu verwenden weiß. Denn digitale Literatur zeichnet sich mindestens durch eine der spezifischen Merkmale digitaler Medien aus: Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung. (Simanowski 2001, S. 4) Jelineks Internetroman gibt in dieser Hinsicht wenig her: Was die Interaktivität betrifft, ist die Teilnahme der Rezipientinnen und Rezipienten an der Konstruktion des Werkes nicht vorgesehen. Allein im Leseakt können diese entscheiden, wie sie den Roman rezipieren, welche Seiten sie anklicken, was sie vom Text mitnehmen. Sie haben keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf oder Ausgang des Textes. Nur die Anzahl der Zugriffe auf die Website mögen die Autorin vielleicht dazu animieren (oder aber auch abschrecken), den Roman fortzuschreiben. Insofern präsentiert sich der Text als langer jelinekscher Monolog, der keine digitale Gegenrede (sei es in einem Blog oder Chat-Room) vorsieht. In Bezug auf Intermedialität bietet der Roman auch recht wenig. Es gibt zwar Bilder, die den Kapiteln des Romans vor und nachgestellt sind, die Verlinkung mit dem Text über anzuklickende Seitenzahlen bleibt dann aber letztlich doch recht unmotiviert. Dass es sich bei den Bildern um Ausschnitte aus Hieronymus Boschs „Die sieben Todsünden“ handelt, liefert allerdings eine Referenz auf den Romantitel, verweist über das Medium des Internets aber auch auf Jelineks in Buchform publizierte Romane Lust und Gier. Intermedialität und Intertextualität rücken dabei sehr nahe zusammen. Das Merkmal der Inszenierung bezieht sich bei digitaler Literatur auf den versteckten Text, also auf unsichtbare Textebenen (HTML-Quellcode, JavaScripts, …), denen Aspekte der Aufführung eingeschrieben sind. (Ebda, S. 5) Ohne die Beschaffenheit dieser Textschichten zu kennen (was meiner Ignoranz geschuldet ist, diese auch lesend verstehen zu können), scheinen auf der mir lesbaren Textoberfläche die Worte und Bilder in Jelineks Roman keine spektakulären Auftritte zu haben. Die Inszenierung (weniger die des Textes, als jene der Autorin) mag vielmehr in dem Gestus liegen, den Roman überhaupt ins Netz zu stellen beziehungsweise ihn auch einfach wieder aus dem Netz nehmen zu können, falls Jelinek zur Erkenntnis gelangt, „dass er da einfach so steht und blöd aus dem Bildschirm herausglotzt“ (Jelinek 2007, S. 35).
Die schulische Auseinandersetzung mit Jelineks Roman Neid ist als ein Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Buch- und Netzliteratur im Nach-Gutenberg-Zeitalter zu verstehen. In der Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen neuer ästhetischer Formen, wie sie digitale Literatur bietet, geht es allerdings nicht darum, holzschnittartig beide Medien gegeneinander auszuspielen, vielmehr soll die Perspektive der Kollaboration zwischen den Medien eingenommen werden. Segeberg (2005) spricht von „Parallelpoesien“, wenn er in Hinblick auf eine koevolutive Mediengeschichte Buch- und Netzliteratur vergleicht. Dass durch die digitale Revolution gleichsam der guten alten Buchkultur der Garaus gemacht werde, davon kann keine Rede sein. Wenn auch das Internet – wie vormals das Radio und der Film – mit dem Buch in Konkurrenz tritt, kann es dieses in seiner Materialeigenschaft nicht ersetzen. Die Zukunft wird es weisen, ob der Anspruch des Internets, alle bisherigen alten Medien in sich aufzunehmen und zum „Universalmedium“ (Ebda, S. 15) zu werden, in der Tat auch umgesetzt werden kann. Was die Mediennutzung betrifft, ist anzunehmen, „dass auch Computernutzer bis auf weiteres ebenso häufig wie intensiv Bücher lesen, während Viel- und Intensivleser von Büchern sich noch stärker als bisher zu ebenso kompetenten wie vielseitigen Nutzern ‚neuer’ Medien [entwickeln]“ (Ebda, S. 27). Dieser Befund ist auch für den schulischen Unterricht, und insbesondere für den Deutschunterricht, von großer Bedeutung, in dem Sinne, dass die Schülerinnen und Schüler mit den unterschiedlichsten Medienformaten konfrontiert werden müssen. Demnach darf auch die Beschäftigung mit Literatur im Deutschunterricht nicht allein am Medium Buch orientiert sein.
Digitale Literatur als eine künstlerische Ausdrucksform der Neuen Medien zu rezipieren und im Vergleich zu anderen Medien zu reflektieren, ist eine spannende Herausforderung für den Deutschunterricht. Die Fülle an literarischen Netzprojekten ist dabei sehr groß, die künstlerischen Konzeptionen der digitalen Literatur sehr vielfältig. Jelineks Internetroman zeugt im Vergleich zu diesen nicht gerade von besonderer Innovation, was den Umgang mit den ästhetischen Möglichkeiten des Medium betrifft. Dennoch ist gerade die Beschäftigung mit ihrem Text insofern interessant, weil sein Erscheinen in besonderer Weise das Verhältnis zwischen Buch- und Netzliteratur zum Thema macht und mit der Erwartungshaltung an gedruckte und elektronische Texte spielt. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach der Kanonisierung von (nicht nur) digitaler Literatur zu stellen. Elfriede Jelinek muss sich keine Gedanken darüber machen, dass ihr Roman in der Datenflut des Internets verloren geht. Ihr Name, der wie ein Label funktioniert, bürgt für Qualität. Ob ihr digitaler Roman auch dieses Versprechen einlösen kann, ist kritisch zu hinterfragen. Und über Qualität von Kunst lässt es sich bekanntlich gut streiten, zumal auch in recht produktiver Weise im Deutschunterricht. Selbst wenn der Roman als ein virtueller erscheint, kann er sich der kritischen Analyse im Deutschunterricht nicht entziehen. Es sei denn, dass Jelinek schon von jenem Mouse-Klick Gebrauch gemacht hat, der notwendig ist, um ihren Text wieder zum Verschwinden zu bringen. Das wäre bedauerlich, nicht nur deswegen, weil dann auch diese Überlegungen, zumindest was die praktische Umsetzung im Deutschunterricht betrifft, hinfällig wären. Indem diese aber ebenso virtuell erscheinen, kann ich sie im jelinekschen Sinne ja ebenso einfach wieder vom Netz nehmen, wissend, dass sie da einfach so stehen und blöd aus dem Bildschirm herausglotzen.

14. Mai 2007

Stefan Krammer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wien.

Verwendete Literatur

  • Abraham, Ulf und Matthis Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Berlin 2005.
  • Jelinek, Elfriede: Dieses Buch ist kein Buch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.4.2007, S. 35.
  • Jelinek, Elfriede: Neid. Privatroman. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/fneid1.htm (6.3.2013)
  • Gutheil, Georg und Norbert Mügge: Lernort Neue Medien. Baltmannsweiler 2000.
  • Lehrplan der AHS Oberstufe im Unterrichtsgegenstand Deutsch. In: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/11853/lp_neu_ahs_01.pdf (eingesehen am 9.5.2007)
  • Killinger, Robert: Gestalten und Verstehen. Literaturkunde. Wien 2002.
  • Kron, Friedrich und Alivisos Sofos: Mediendidaktik. Neue Medien in Lehr- und Lernprozessen. München 2003.
  • Rainer, Gerald u.a.: Stichwort Literatur. Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Linz 2005.
  • Schacherreiter, Christian und Ulrike: das LITERATURBUCH. Band 1 (a) und Zusatzband (b). Linz 2005.
  • Segeberg, Harro: „Parallelpoesien“. Buch- und/oder Netzliteratur? Einführung und Überblick. In: Ders. und Simone Winko (Hg.): Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der      Literatur. München 2005, S. 11-27.
  • Simanowski, Roberto: Autorenschaft in digitalen Medien. Eine Einführung: In: TEXT + KRITIK 152 (2001), S. 3-21.
  • Wermke, Jutta: Literatur- und      Medienunterricht. In: Bogdal, Klaus-Michael und Hermann Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2000, S. 91-104.