Sabine Treude: Die Aufhebung und das Archiv

Zur flüchtigen Präsentationsform von Jelineks Neid

„Heute jedoch verwandeln beschleunigte Archivierungsweisen, aber auch Abnutzung und Zerstörung die Struktur und die Zeitlichkeit, die Dauer des Erbes. Die Frage des Überlebens nimmt für das Denken nunmehr völlig unvorhersehbare Formen an.“
Jacques Derrida 1

Mit dem Archiv und den traditionellen Prinzipien der Archivierung könnte Jelineks neue Form der Veröffentlichung ihres Romans Neid durchaus zu tun haben.
Also nicht nur ein Schlag gegen all diejenigen, die sich als Bibliophile verstehen und denen vor der bedruckten Zettelwirtschaft graust. Ebenso wenig übrigens wie die Publikationsform als bloße Anbiederung an unsere Technokultur zu sehen ist.
Nein, Jelinek versteht es durchaus alt zu werden, und sie versteht es – erstaunlicherweise -, auch ohne das Archiv oder die Ein – und gespenstische Gefangennahme2 durch zwei Buchdeckel und das damit verbundene verlegerische Spektakel. Mit der Publikationsform von Neid überantwortet Jelinek Überleben im Sinne einer stetigen Aufgabe, die das Erbe stellt.
Worauf will ich hinaus?
Im Grunde – wie kann es anders sein – auf Dreierlei:
1) Wie so häufig sehe ich die Publikation ihres Romans im Internet – und nur dort – als einen höhnischen Affront gegen den von Jelinek immer wieder persiflierten Martin Heidegger. War er es doch, der behauptete, dass jegliches technische Gerät, das sich mit Ausnahme des Stifts oder der Feder zwischen Kopf und Hand dränge, zwangsläufig zum Irrsal des Denkens generiere. Kein Wunder also, dass er die Tipperei seiner Frau überließ.
Jelinek antwortet gründlich darauf.
2) „In chinesischen Legenden steht geschrieben, daß große Meister in ihre Bilder hineingingen und verschwunden sind. Die Frau ist kein großer Meister. Deshalb wird ihr Verschwinden nie vollkommen sein. Sie taucht immer wieder auf, beschäftigt wie sie ist, mit dem Verschwinden.“ Eva Meyer3
Das Prinzip der Archivierung etwa von Büchern gründet darauf, die einen zum Meister zu erheben und von den anderen zu schweigen. Ob man will oder nicht, im Moment der Publikation eines Buches, das noch dazu mit Preisen geehrt wird, setzt man sich sowohl den verlegerischen Reglements der Autorschaft, den gesellschaftsrelevanten wie politischen Prinzipien der Archivierung als auch dem Spektakel um die Person aus – drei etablierte Umgangs – und Reaktionsstereotypen, hinter denen die Texte und Inhalte nur gar zu häufig zu verschwinden drohen.
Ihnen verweigert Jelinek sich nunmehr im gleichen Zuge wie sie sich der möglichen Flüchtigkeit zuschreibt.
3) „sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. (…)“ Elfriede Jelinek4
Schon früh thematisierte Jelinek das passiv bewundernde Konsumverhalten nicht ohne die Leserinnen und Leser ihrer Texte durch die Aufforderung, selbst Hand anzulegen, kritisch mit diesem Verhalten zu konfrontieren. Bildungskapitalistisch gesehen ist man bei Jelinek schlecht aufgehoben. Mit der neuen Publikationsform geht sie noch einen Schritt weiter, sofern es nicht mehr reicht, in ein Geschäft zu gehen und das Buch zu kaufen, nein, man muss den Bildschirm anwerfen und den Text gegebenenfalls selbst ausdrucken.
Zudem wird der Lesefluss, sofern man der Neugier nicht widerstehen kann, gebremst, da die Kapitel des Romans sukzessive erscheinen. Fortsetzung folgt, aber wann? Monate später, so dass man sich wohl kaum noch an die bei Jelinek immer wichtigen Details erinnern kann, was schließlich bedeutet, dass man die vorangegangene Lektüre wiederholen muss.
Fortsetzung und Wiederholung kennen wir hinreichend aus dem Fernsehen. Doch genau das Abwarten und Zuschauen gewährt uns Jelinek mit diesem Roman nicht. Nein, so ganz und glatt frisiert5 wird auch dieser Text nicht zu haben sein, mit dem Unterschied allerdings, dass er uns unmittelbar heimsucht oder eben nicht.
Die Wahl und die Aufhebung liegen jeweils bei den einzelnen LeserInnen.

19. Mai 2007

Sabine Treude lebt und arbeitet u.a. als freie Publizistin in Waidhofen/Ybbs und ist Lehrbeauftragte am Institut der Philosophie an der Universität Klagenfurt.

Fußnoten
1) Jacques Derrida, Leben ist Überleben. Wien 2005, S. 41.
2) Vgl. ebenda, S. 40.
3) In: Elfriede Jelinek: Krankheit oder Moderne Frauen. Köln 1987, S. 5.
4) Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel baby! Reinbek 1989, Gebrauchsanweisung, erste Seite.
5) Vgl. Elfriede Jelinek: Im Abseits, Wien 2006.