Rainer Just: Zeichenleichen – Reflexionen über das Untote im Werk Elfriede Jelineks

Leichenzeichen, würden in der eigentlichsten Bedeutung die wahren Merkmahle der Fäulniß bey einer Leiche seyn. Im gemeinen Leben aber nennt man auch diejenigen blauen Flecke eben so, welche man manches Mahl im Schlafe entweder durch einen Stoß, oder dergleichen, manches Mahl aber auch von Geblütstockung, erhält. Der gemeine Mann nennt diese Flecke in der platten Sprache auch Gesikneep, (Geistkniffe), Dodenkneep (Todtenkniffe), in der Prignitz Dodenplack, (Todtenflecken,) und glaubt, daß solche vom Kneifen der Gespenster oder des Alps herrühren.
Oeconomische Encyclopädie von Johann Georg Krünitz (1773-1858)

Zeichenleichen – Leichenzeichen: Die Wörter spiegeln sich ineinander, sie tauschen sich aus, wechseln die Seite, fallen sich in die Flanke, fallen aufeinander hinein, laufen, um sich aufzusplittern, in die Reflexionen des anderen ihrer selbst. Weil sich die Zeichen, die nicht aufhören können, auf das zu stoßen, was sie nicht sind, unaufhörlich umkehren, sind sie immer schon ent-stellt – versetzt und verletzt wie ein Tier, das in die Falle eines größeren Tieres gegangen ist, sagen wir: in die Falle des Menschen. Denn wo – danach soll hier gefragt werden – liegt der eigentliche Ort der Wörter? Fort – Da, Fort – Da: wir kennen Freuds Kinderspiel, das Lacan bis zum letzten Faden fortgesponnen hat, dieses Spiel mit der Spule und dem Signifikanten, das sich nach dem Tod der Mutter, die auch eine verstorbene Tochter ist, abzuspulen beginnt. Die Logik des Vampirs, um die es hier – in Parallelsetzung zur unheimlichen Logik des Signifikanten – gehen soll, duldet keinen Inzest. Kein Vampir beißt einem anderen die Adern auf (es sei denn, er wäre ein Werwolf). Seine Identität, die sich nicht im Glas und auch nicht in der Mutter, sondern ausschließlich im Gesetz des (un)toten Vaters spiegelt, ist nur über die Heimsuchung der fremden Körper zu haben. An dieser unendlichen Auf-Gabe der heterogamen Transfusion, dem alten Spiel der Wi(e)derholung (fort – da, rein – raus), musste auch schon Orpheus, der mythische Sänger, zu Grunde gehen. Wie das Leben festhalten allein mit Worten? Wie das Leben ansprechen, ohne sich von ihm abzuwenden? Diese klassische Frage stellt uns seine Geschichte der Hadesfahrt. Wer die Sprache in den Mund nimmt, singt – wie Orpheus, wie Josephine – immer schon in einem Zwischen-Spiel: weder an- noch abwesend, weder Leben noch Tod, weder im Dies- noch im Jenseits. Ein unheimliches Haus, dieses Haus der Sprache. Es spukt in seinen Zimmern. Geister gehen durch sie hindurch und hinterlassen Spuren auf der Haut ihrer Bewohner. Zeichen bleiben zurück; nicht mehr, aber auch nicht weniger als Zeichen einer abwesenden Anwesenheit, eines vergangenen Da-Seins und vielleicht – wer will es wissen? – seiner zukünftigen Wiederkehr: „Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt einem also übrig.“1 Mit diesen drei Sätzen beendet Elfriede Jelinek ihre Nobelpreisrede, in der sie, angelehnt an Heidegger, über das Un-Wesen und den Ab-Weg der Sprache spekuliert. Sie unterstreicht damit die Notwendigkeit einer Literatur, welche die Aufgabe des Schreibens als die unmögliche Auf-Gabe der Sprache begreift, dem Toten gerecht zu werden. Wer schreibt, wer sich ganz der Literatur verschrieben hat, übersiedelt mit seiner Existenz in ein Konfinium zwischen Leben und Tod. Als avantgardistischer Schriftsteller (im buchstäblichsten Sinn avant la lettre) besetzt er den unheimlichen Ort per se: den Ort des Signifikanten, des Wiederholungszwanges, des Todestriebs. Die Schrift, die nicht aufhören kann, sich zu schreiben, macht den Menschen zum Vampir.
Ein Gespenst geht um, und es geht – was die Literatur, was das Versprechen der Sprache betrifft – immer um das Unsa(r)gbare: Das, was nicht sterben, nicht in einem abgeschlossenen Sarg begraben werden kann, ist das, was sich nicht aus-sprechen, zu einem Ende sprechen lässt. Das Tote, das im Leben zurückkehrt, wiederholt sich als Schrift (das Un-Tote wiederholt die Schrift): es ist Symptom einer missglückten Symbolisierung und zugleich, weil es sich als lesbare Spur des Mangels in die lebenden Körper eingraviert, Schrift-Zeichen dieser Unmöglichkeit, Lebendiges und Totes, Geistiges und Materielles ohne traumatischen Bruch zu versöhnen. Jedes Symbolon – gr. „das Zusammengefügte“ – ist seiner Etymologie nach eine Scherbe, irdenes Bruchstück einer zerbrochenen überirdischen Einheit, egal ob diese höchste Idee nun Liebe, Sein, Wahrheit oder Gott heißt. Da jedem Zeichen nur als einem zerstörten, d. h. in der differentiellen Entzweiung die Potenz des Bedeutens zukommt, trägt die Sprache das Versprechen der Wiedervereinigung ausschließlich als schon gebrochenes, als grundsätzlichen Wort-Bruch in sich. Was Sprache im höchsten Glücksfall zu erwirken vermag, ist Erkenntnis des anderen. Im Augenblick des Wiedererkennens (Anagnorisis) finden die Getrennten zwar zueinander, aber nur die toten Zeichen vereinen sich, die lebenden Körper, dessen Einheit der Zusammenschluss der Zeichen verheißt, müssen, auch wenn sie sich noch so nahe kommen im imaginären Schein des Symbolischen, für immer für sich bleiben. Für immer für sich: Die Schrift, die nicht aufhören kann, sich zu schreiben, artikuliert ein unendliches Begehren, das Begehren des anderen auch jenseits des Symbolischen zu erreichen. Was immer wieder von den Toten aufersteht – als Untotes das Leben über-lebt –, ist der Signifikant. Unweigerlich fällt die Artikulation des Begehrens in das Begehren der Artikulation zurück, in dem sich Todes- und Lustprinzip kreuzen. Nicht Menschen kopulieren in Jelineks Theater- und Romanwerken, sondern Textkörper: „Manche vermögen in andere einzudringen, aber besonders weit kommen sie dabei nicht.“2
Lazare veni foras
: „Heraus mit der Sprache, auf der Stelle!“.3 Zu den eindringlichsten Passagen in Jelineks „Kinder der Toten“ – und tatsächlich handelt es sich bei diesem Textfluss um einen rite de passage im thanatologischen Sinn, um eine lebensnotwendige Durchquerung des Jenseitigen – zählen jene Seiten, auf denen etwas Ungeheuerliches beschrieben steht. Der Krake, das Ungeheuer, das hier an der Grenze des Unsagbaren auftaucht, ist das physische Weiterleben der Toten in ihren Gräbern. Jelinek beschreibt die Verwesung der menschlichen Körper, sie setzt ihre postmortale Zersetzung detailreich in Szene, schildert Verflüssigung, Zerfall und Auflösung des Fleisches. Aber Jelinek beschreibt noch mehr, denn der Deformationsprozess der Leichenfäulnis, der hier wie in einer surrealistischen Anatomiestunde nachgezeichnet wird, lässt den Körper des Toten nicht einfach im Nichts verschwinden, sondern verleiht dem sterblichen Über-Rest – durchdrungen vom Anorganischen, Bakteriellen, Vegetativen und Tierischen – eine transhumane Existenz. Was sich in Jelineks Text ereignet, kann als dekonstruktive Putrefaktion bezeichnet werden: Beschreibung einer rekreativen Verwesung, die den Leichnam in ein Ver-Wesen umwandelt. Und in diesem Ver-Wesen der lebenden Leiche west das Begehren unendlich fort. Dieses Moment der unendlichen Begierde evoziert schließlich auch das Verstörendste und Unheimlichste der Jelinekschen Gräberspekulation. Nicht das Ekelige schockiert daran, sondern die Re-Humanisierung des Entmenschlichten: dass auch die Toten in ihren Gräbern nicht aufhören können zu lieben (wenn wir – mit radikal kritischem Blick – die überwältigende Emotion der Verschlingungssehnsucht so nennen wollen).

Der Tod hat noch ein Problem ausgelöst, ich sags nicht gern: die Inkontinenz im Anusbereich, und so werden die beiden rolligen Burschen, deren Fleisch doch eben noch so weiß erschienen ist, langsam von einer bräunlichen Flüssigkeit überzogen, die aus dem Bereich Rektum/Anus herausgeflossen ist, sodaß eine erniedrigende Lage entsteht, welche die beiden aber gar nicht wahrnehmen, im Gegenteil, sie untersuchen einander mit stets wieder neu erwachender Kraft, spreizen einander auf, nanu, das gibt erst recht zu neuem Staunen Anlaß, und das auch noch: etwas unkontrollierbarer wäßriger Durchfall, mit dem der eine auf den andren jetzt schon tagelang, jahrelang eingeregnet hat, kann nicht verhindern, daß diese wilden Knechte glücklich einer vom andern durchtränkt sind, als wären ihre Körper Schaumrollen, in die man gern die Lippen senkt, um dann, mit dem ganzen Genußstengel voran, ins Warme hineinzukriechen und mit dunkel bereiftem Mund wieder aufzutauchen. Aber wo kein Tor ist, durch das der selige Jesus aufrecht gehen kann, dort werden auch wir Den Richter nicht brauchen. Oder: Jesus ist selbst das Tor, durch das die Gläubigen ins Mysterium hineingehen können, und was finden sie dort? Einen der häufigsten Tumore, an dem auch wir erkranken, die Liebe, ich nehme dieses Wort wieder zurück und gebe Ihnen dafür ein anderes, nur weiß ich nicht, wo ich es jetzt hingetan habe.4

Die Toten fließen ineinander, sie penetrieren sich mit ihren Zersetzungssäften und Pflanzenwurzeln, welche ihren mit Erde gefüllten Leibesöffnungen entwachsen. Ihre Körper tauschen sich aus in der Kopula der Verwesung. Sie verschlingen sich gegenseitig und verzehren sich selbst, sie sind, weil sie sich in der Sehnsucht nach dem anderen verzehren, zu Nachzehrern5 geworden. Sie bilden Leichen-Myzele, Rhizome des unerlösten Begehrens, als wollten sie auch als Tote noch Kinder zeugen. Kinder der Toten? Wie könnten die leben? Was pflanzt sich hier Unheimliches fort? Was pflanzt sich in uns fort? Zunächst – über allem und unter allem – die Sprache.
Die Geschichte einer porno-logischen Literatur, d. h. von Texten, die das Begehren im Medium vom Sexualität und Schrift kurzschließen, bleibt noch zu schreiben, aber auf jeden Fall wäre darin Jelineks dekonstruktiver Putrefaktionsprosa ein gewichtiger Platz einzuräumen.6 Was diese gewaltige Prosa zum Laufen bringt, ist nicht nur eine panorgiastische Kopulationsmaschine, deren Triebwerk selbst aus den Leichen noch die letzte Lust treibt, sondern auch eine Textmaschine, eine semantische Mechanik, deren nekro-logisches Programm – sema be-deutet im Griechischen sowohl „Zeichen“ als auch „Grab“ – eine untrennbare Legierung aus Totem und Belebtem, aus Realem und Fiktivem, aus geschundenen Menschen- und fragmentierten Sprachkörpern erzeugt. Der Leser, der diese Leichen- und Zeichenlegierung liest, der die Krypta des Textes zu entschlüsseln versucht, steht immer schon vor einem Unentscheidbaren: egal wie oft er in den Text zurückkehrt, es wird ihm niemals möglich sein, zu bestimmten, ob hier von Lebenden oder von Toten die Rede ist. Ja nicht einmal, wovon hier überhaupt gesprochen wird. Der „Strom mit Reißzähnen“7, in den alle Figuren des Romans fallen und in den auch jeder Leser stürzt, ist der Signifikantenfluss, der kein Ziel mehr kennt, sondern alles mit sich fortreißt, um im Meer des Unbestimmbaren zu münden. Keine Geschichte wird hier erzählt, sondern Ge-Schichten aus semantischen Gegensatz-Materialien konstruiert. Die Tektonik der Toten, die der Roman beschreibt, ist die Schichtung der Sprache selbst.
Was der Leser zunächst geschildert bekommt, sind Leichenzeichen: anatomisch detaillierte Diagnosen einer De-Humanisierung. Aber dieses Lesen der Leichen und ihrer Zeichen – diese thanatologische Lektüre – kommt einer hermeneutischen Autopsie gleich, durch die sich im Sinnlosesten – dass das Verstorbene für die Überlebenden unweigerlich darstellt – wiederum ein Sinn entfaltet wie der Same jener Pflanzen, die aus den zu Humus zerfallenden Toten entwachsen. Etwas bleibt hier am Leben und transzendiert den Tod. Denn das Eigentliche, was Jelineks allegorein zu umsprechen sucht, ist nicht die Leiche und auch nicht der lebende/liebende Körper, sondern die Sprache selbst, die über das Tote spricht, als wäre es noch am Leben. Und natürlich auch umgekehrt: die über das Leben spricht, als wäre alles, was sie beim Namen nennt, schon vor Unzeiten gestorben. Leichenzeichen – Zeichenleichen: weder die Toten noch die Lebenden kopulieren hier, sondern ihre Zeichen, denn die Wörter, durch deren Kopula hier das Fort- und Über-Leben des Verstorbenen beschrieben wird, sind selbst tote Körper, die ihr Un-Wesen treiben zwischen Dies- und Jenseits. Alle Zeichen sind Leichen, die erst dann, wenn man sie liest, zu neuem Leben erwachen. Zu einem Schein-Leben freilich.
„Die Toten sollen lesbar sein.“8 – dieser Satz, den Emily, die Vampir-Schriftstellerin aus „Krankheit oder Moderne Frauen“ spricht, könnte als Imperativ über Jelineks gesamtem Programm einer ästhetischen Negativität stehen. Die Toten, das sind die Texte, doch die Texte sind nicht tot: Es gibt wohl kaum ein Werk der Gegenwart, das mit größerer literarischer Anstrengung auf dieser unheimlichen Ver-Wesung insistiert, die in der Schrift stattfindet (ihre Grab-Stätte findet), als Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“. Nicht erst seit Derrida dürfte bekannt sein, dass sich die Spur der differentiellen Einschreibungen, die jedes Zeichen, um sich durch das zu bestimmen, was es nicht ist, in sich trägt, als die Schrift des Todes entziffern lässt. Von Anfang an ist die Sprache eine verweste. Ihre Wörter sind schon beschädigt und zerbrochen zur Welt gekommen, und je älter sie werden, desto mehr nimmt der Grad ihrer Zerstörung zu. Irgendwann werden sie so unansehnlich, dass sie niemand mehr in den Mund nehmen will; dann warten sie still, begraben in den Wörterbüchern, auf ihre Widerauferstehung. Die Körper der Zeichen, die wir verwenden, sind geschunden und abgeschliffen von der Geschichte ihrer Ver-Wendung: gezeichnet von Tod und Zeit. Wenn Jelinek die Sprache als zerstörte, ihre Zeichen als Zeichenleichen beschreibt, dann hat das weniger mit der Anklage einer megamedialen Entertainmentgesellschaft zu tun, deren Jargons die reine, „liebe Sprache“ verhunzen würden (auf den „Hund Sprache“9 werden wir noch zurückkommen), als mit dem Bewusstsein einer tiefen Sprachskepsis, deren Wurzeln bis an die Anfänge der literarischen Moderne zurückreichen. Wem die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfallen, weil er überhaupt nicht an die Macht der Sprache glaubt, durch Worte auf ein Lebendiges verweisen zu können, dem erscheint jedes Sprechen gespenstisch und jede Schrift wie ein Spuk und dem wird es auch nicht möglich sein – es sei denn, er nähme das Paradoxon von Hofmannsthals Brief in Kauf –, eine Geschichte zu erzählen, ohne sich ständig zu verzählen, ohne dabei ständig über die Zeichen zu stolpern, die als Leichen den Weg zur Sprache pflastern. Das Unterwegs-zur-Sprache-Sein, über das Jelinek in ihrer Nobelpreisrede reflektiert, wird so tatsächlich zu einer chtonischen Expedition, zu einer Katabasis ins Reich der Toten: das Abseits des Schriftstellers führt ganz nah an den Abgrund – und nicht selten in den Abgrund hinab.
Doch zunächst, bevor wir die vampireske Existenz des Schriftstellers etwas ausführlicher erhellen wollen, noch einige Bemerkungen zur thanatologischen Ver-Wendung der Sprache und ihren ästhetischen Konsequenzen. Nach den Romanen „Lust“ und „Gier“ erscheint mit „Neid“ ein weiterer Roman Jelineks mit einem four-letter-word als Titel: auch ohne Hieronymus Boschs Gemälde „Die sieben Todsünden“, das den „Privatroman“ im Internet illustriert, wäre die Signifikantenkette in ihrer christlichen Konnotation leicht zu dechiffrieren gewesen. Wer eine Todsünde begeht, dem droht die ewige Verdammnis der Hölle. Und die Hölle, das bedeutet auch die Unmöglichkeit zu sterben. Bei Jelinek scheint die Sprache selbst als Ganze verdammt zu sein, weil ihre Schrift, die sich unaufhörlich schreibt, sowohl die Lust am Toten als auch die Gier nach Leben in sich trägt. Gibt es eine größere masochistische Lust als das Begehren des Signifikanten? Keine Überraschung also, dass auch die Erzählstimme von „Neid“ einer Untoten, einer Wiedergängerin gehört, deren Redefluss – wie von ihr ständig betont wird – zwar nichts mehr zu erzählen hat und sich im unendlichen Nachsagen10 erschöpft, aber auch nicht versiegen kann, weil der Neid des Leblosen auf alles Lebendige ihrem doppelgängerischen „Textkörper“11 eingraviert wurde: „ich kann mir nichts verkneifen, da ich mir alles versagen muß. O wie ich die Lebenden beneide“.12 Schuldig geworden durch ein Begehren, das sich in ihr unaufhörlich artikuliert, versagt die Sprache, indem sie sich in einem unendlichen Ver-Sagen, das ein Nachsagen ist, verzählt. Ein Sinnversagen der Zeichen sozusagen: woran Jelineks Sprache tödlich erkrankt scheint (ohne daran zu sterben), ließe sich als intertextuelle Hypertrophie diagnostizieren. Die Zeichen sind ent-stellt, ent-stellt von einer Umstellung. Sie sind bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leichen, eingesponnen in einen widerspenstigen Kontext, der sie dissimiliert, ihren Sinn bis ins Vakuum der Bedeutungslosigkeit disloziert. Die Zeichen sind gezeichnet vom Aussatz der Sprache. Die Wörter tragen ihre Geschichte in sich; ihre Spur spukt im Begriff, der nichts mehr erfasst, der ins Leere greift, so wie der Leser, der sie liest, ins Leere geht, hindurchgeht wie durch einen Geist, einen Geist der Sprache, der nur noch als Gespenst erscheint, weil er nicht mehr – sagen wir es mythologisch – beseelt ist vom göttlichen Hauch: Seit dem Turmbau zu Babel sind die Zeichen in alle Winde zerstreut. Jelinek hat, in ihrer Lust am Text(en), auch die Arbeit an diesem Mythos nicht ausgelassen.13 Natürlich ist hier eine Logik der Différance, der Dissemination, der Iterabilität oder des Supplements am Werk. Wir könnten dieses poststrukturalistische Begriffsinstrumentarium, das uns Derrida und andere zur Verfügung stellen, gebrauchen, um aufzuzeigen, dass Jelinek hier bloß etwas radikal aus-spricht, zu Ende spricht, was jedes Sprechen grundsätzlich als Bedingung seines Funktionierens, das – wie wir wissen – immer auch eine Disfunktion einschließt, in sich trägt (pointiert gesagt: der strukturale Grundsatz jedes Sprechens wird hier als hypertropher Aussatz der Sprache bewusst gemacht). Wir könnten, wollen aber nicht (schließlich fehlt hier auch der Raum, geht es doch auf diesen Seiten um die Krypta der Schrift, und ein Sarg ist niemals sehr geräumig). Deshalb wollen wir nur noch kurz etwas zur Unlesbarkeit anmerken, die aus der Ver-Wendung der Wörter als entstellte Zeichenleichen resultiert. Jeder Leser, der liest, wird auf die Unlesbarkeit von Jelineks Text stoßen, und ein Leser – so postulieren wir hier provokant –, der an Jelineks Text nicht scheitert, der ihn genießt und ihn versteht, liest nicht den Text, sondern liest über ihn hinweg, steigt über seine Zeichenleichen, als wären sie nicht da, als wäre der Weg frei zur Sprache und zum Sinn. Ein Text wie „Die Kinder der Toten“ – zweifellos Jelineks opus magnum – ist ungenießbar. Man kann ihn nur in kleinen Dosen zu sich nehmen, wie eine hochgiftige Medizin, die Heilung verspricht, aber nur um den Preis des Todes. Jelineks Text ver-sagt sich dem Verstehen, widersteht jeder Erzählung, aus der eine Moral von der Geschicht zu destillieren wäre (doch, doch: es gibt auch hier – wir werden auf diese Unterscheidung noch zurückkommen – eine Ethik der Lektüre). Die Unlesbarkeit, mit der sich Jelineks Leser konfrontiert sehen, übersteigt das dekonstruktive Konzept Paul de Mans und auch den Intertextualitätsbegriff von Julia Kristeva, oder – wenn man so will –: sie ist deren buchstäbliche Exekution. Unaufhörlich überschlägt sich bei Jelinek der Verweisungszusammenhang der Wörter – man hat von Assoziationswut und ähnlichem gesprochen –, so dass es schließlich zu einer völligen Dezentrierung der textuellen Identität (des Autors, des Werks, aber auch des Lesers) kommt und das uneigentliche Sprechen tatsächlich auf nichts verweist, auf nichts anderes mehr als den Leerlauf der Sprache selbst. Man liest, aber man liest nichts: die Allegorie des Lesens mündet in die Allegorie der unendlichen, leeren Fahrt.14 Überladen mit Kontext haben die Wörter ihre Bedeutung entladen, sind als Zeichen, die auf einen außersprachlichen Referenten verweisen, endgültig des-identifiziert: „je mehr sie [die Sprache] weiß, umso nichtssagender wird sie. Sie sagt natürlich dauernd etwas, aber sie ist nichtssagend.“15
Erst eine radikal hypertrophe Intertextualität, wie sie in Jelineks Werk an vielen Stellen zur Aus-Sage kommt, führt zu jener Dezentrierung der Identität, die für Kristeva die Hauptkategorie ihres Intertextualitätskonzeptes bildet. Das Werk offenbart sich hier tatsächlich als Gespinst. Wenn Karlheiz Stierle in seiner Kritik an Kristeva behauptet, dass ihre Theorie der Intertextualität den subjektkonstitutiven Faktor der meisten zwischentextuellen Bezüge vernachlässige, dann begründet er seinen Einspruch mit der nicht unstimmigen Beobachtung, dass die meisten Werke gerade danach trachten, ihren Gespinststatus, der grundsätzlich jedem Text zukommt, zu verbergen.16 Fast alle Texte, die implizit oder explizit auf andere Texte verweisen, nehmen das andere in sich auf, nicht um die Identität des Werks oder seines Autors zu dezentrieren, sondern um im Gegenteil den eigenen Subjektstatus durch den Bezug auf das Heterogene zu stärken: die fremden Stimmen sollen – wie ein Chor – letztendlich die Haupt- und Solostimme in ihrer Aussagekraft unterstützen. Dass es nicht in jedem „polyphonen Roman“ (Kristeva nennt Kafka, Proust und Joyce als Beispiele) zu einem derart starken Effekt der Des-Identifizierung kommt wie es bei Jelinek der Fall ist, dürfte offensichtlich sein, weshalb sich die Frage stellt, ob es nicht sinnvoll wäre, für Jelineks Werk einen neuen poetologischen Begriff einzuführen, mit dessen Hilfe sich das hier beschriebene Phänomen der Sprachwucherung fassen ließe, dieser entstellenden Sprachverwendung, die natürlich – siehe Schwitters, Beckett, Joyce – eine prominente Tradition hat.17 Unter dem thanatologischen Aspekt einer literarischen Sprache, der hier im Zusammenhang mit Jelineks Texten reflektiert wurde, böte sich der Begriff der Interkryptualität an: da der Bezug der Zeichen aufeinander so hypertroph geworden ist, dass jede ihrer Bedeutungen sofort wieder durch das Spektrum der vielfältigen Assoziationen entstellt wird, erscheint die Schrift als eine radikal kryptische. Krypta, das bedeutet das Verborgene, die unterirdische Gruft, das Grab-Mal. Text-Kryptik: Die Zeichen sind abgestorben unter der Überlast der Verweisungszusammenhänge. Sie haben sich erschöpft in ihrer unheimlichen Spektralität, haben ihr Un-Totes, das den Schrift-Körpern von Anfang an eingeschrieben ist, endgültig nach außen gekehrt: als Zeichenleichen, die nicht aufhören können, auf das Tote, d. h. auf andere Zeichen zu verweisen, sperren sie sich jeder Bestattung, jeder Möglichkeit, im Sinn-Raum einen Stepppunkt zu finden, der sie in ihrer Bedeutung fixiert. Das Verweisungsspiel einer permanenten Signifikantentektonik lässt alles im Unentschiedenen: ob von Lebenden oder Toten, ob von Menschen oder Texten, ja wovon am Ende der Metonymie – ein Ende, das es niemals geben kann – überhaupt die Sprache ist, bleibt offen. Was hier wirklich, eigentlich, wesentlich, grundsätzlich ausgesagt wird, kann nicht gesagt werden, es geht – wie gesagt – um das Unsa(r)gbare. Die zahl- und oft auch wahllosen Anspielungen, die jedem Satz einen Gegen-Satz zuweisen, kreieren eine interkryptuelle Schrift, deren Geheimnis gerade jene Leere ist, um die jedes Sprechen über das Sprechen kreist. Nicht zur Enträtselung der Aussage dienen Zitat und Allusion, sondern zu ihrer Verrätselung – zur unkontrollierbaren Verästelung des semantischen Gespinsts. Wie in einer unendlichen Echokammer vervielfältig jeder fremde Text, der von Jelineks Interkryptualität evoziert wird, die Unbestimmtheit des Besprochenen, anstatt sie einzudämmen. Die Krypta der ästhetischen Negativität steht offen, doch der Raum, den sie eröffnet, ist leer: das Verborgene entbirgt nichts – nichts, außer das Versprechen der Erlösung.18
Der Mensch ist auf den Hund gekommen: auf den „Hund Sprache“, von dem Jelinek in ihrer Nobelpreisrede erzählt. Die Sprache ist ein Hund… Die Sprache ist verhunzt… Beliebig ließe sich mit dieser animalischen Prosopopeia fortspielen, doch Jelinek hat unter allen Tieren nicht zufällig, nicht aus Beliebigkeit, einen Hund ausgewählt, um der Sprache ein unmenschliches, aber doch vertrautes Gesicht zu geben. Der Hund ist unter allen Tieren der engste Gefährte des Menschen. Er beschützt – als Wachhund – das Leben des Menschen. Er passt auf ihn auf. Doch der Hund ist auch ein gewesener Wolf: ein domestiziertes Raubtier. Natürlich – Natur der Kultur – steckt im „Hund Sprache“ auch ein „Fleischwolf“19, ein Wolf mit „Reißzähnen“, die nicht nur ein Menschenleben verteidigen, sondern es auch töten können: „Mein Schutz will mich beißen. Mein einziger Schutz vor dem Beschriebenwerden, die Sprache, die, umgekehrt, zum Beschreiben von etwas anderem, das nicht ich bin, da ist – dafür beschreibe ich ja soviel Papier –, mein einziger Schutz kehrt sich gegen mich.“20 Wer von der Sprache angefallen wird, der ist von ihr besessen, der verwandelt sich – wenn die Inschrift, der Biss ihrer Zähne, tief genug unter die Haut geht – selbst in einen Wer-Wolf, in ein somnambules Ungeheuer, dessen Nachtwachen21 die Grenzräume des Humanen ausloten. Die Dämonologie des Hündischen reicht von Zerberus, dem Höllenhund, bis zu Fausts schwarzem Pudel, der nicht zufällig just in jenem Augenblick seinen mephistophelischen Kern enthüllt, in dem Faust das Wort logos zu übersetzen versucht. Die Sprache beschwört den Teufel und der Teufel schwört auf die Sprache. „Schreiben“, schrieb Kafka, literarisches Schreiben sei „Lohn für Teufelsdienst“, ein „Hinabgehen zu den dunklen Mächten“.22 Nicht erst Kafka fühlte so: schon während des gesamten 19. Jahrhunderts hatte sich die Logik des Autors mit der Logik des Vampirs – entfernter Verwandter des Werwolfs – gekreuzt.
Der Vampir konnte, vermittelt durch Literatur und Volksmythologie, zum prominentesten unter allen Gespenstern werden, weil seine Figur – den Schnittpunkt etlicher Diskurse wie Sexualität, Macht, Politik, Kunst oder Wirtschaft besetzend – in einer metadiskursiven Geste das Wesen der Sprache selbst (genitivus subjektivus und objektivus zugleich) beschreibt. Sein Sarg, der ihm ein Bett ist, markiert den Ort der Schrift, den A-Topos einer existentiellen Liminalität: Schreiben – zumal literarisches – bedeutet wie das vampireske Sein einen Grenzgang zwischen Tod und Leben, Lust und Leid, Traum und Wachen. Graf Dracula – Graph Dracula – ist die melancholische Selbstreflexion des der Sprache unterworfenen Menschen:23 der, der nicht sterben kann, ist der, der nicht aufhören kann zu schreiben, der ohne Ende – über den Tod hinaus – beschrieben wird. Seit der Romantik (Michel Foucault hat die Grenze bei Sade und Hölderlin gezogen)24 fühlt sich der Schriftsteller unter diesem unendlichen Bann des Signifikantenflusses: ausgezehrt von der Sprache saugt er das Leben aus. So explizit handhabt Jelinek die poetologische Selbstreflexion im Spiegelbild (!?) des Vampirs, dass es hier keiner großen Spurensicherung bedarf. Es genügt die Feststellung, dass „dieses vampirische Zwischenleben“25 des Schriftstellers strukturell notwendig aus der Negativität einer modernen, avantgardistischen Kunst resultiert. Das „Abseits“, aus dem Jelinek ihre Nobelpreisrede spricht, das „Außerhalb“, von wo – in einem radikalen Sinn – ausschließlich geschrieben werden kann, ist ein Ort der Umnachtung („Ich bin umnachtet. Ich bin nicht ohnmächtig, aber ich bin umnachtet. Ich bin übernächtig davon, meiner Sprache nachzuschauen […]“).26 Wie blass er ist… blass wie ein Blatt Papier. – Dem Autor, gezeichnet von einer Schrift, die widersteht, wird es zu einer sinnlichen, zumindest zu einer melancholischen Gewissheit, dass in einer kranken Welt die Krankheit des Einzelnen nur als Symptom seiner Gesundheit gelesen werden kann. Der Vampir ist der kranke Mensch par excellence. Der Künstler, krank von einer Welt, die Vampire jagt – „Christ sein, das heißt gegen den Vampir als Prinzip sein“–,27 verkümmert zum Un-Toten: ohne Licht, ohne Spiegelbild, ohne Freude am Leben, nur noch mit einer kleinen Lust am Text. Das Lachen ist dem Schriftsteller mit der Sprache im Hals stecken geblieben, stattdessen sind ihm lange Zähne gewachsen, lang und spitz wie Bleistifte, die er in die Welt schlägt und ins eigene Fleisch. Die Zähne ins eigene Fleisch schlagen: den Zahn der Zeit, den Zahn des Erzählens, den Zahn der Schrift. Der Welt die Zähne zeigen: „In allem und jedem: unerbittliche Opposition!“28 lautet das Credo von Emily, der schriftstellenden Vampirin aus Jelineks Stück „Krankheit oder Moderne Frauen“ (dessen Titel – siehe oben – auch „Krankheit oder Moderne Künstlerinnen“ lauten könnte). Der Widerstand der ästhetischen Negativität ist „unerbittlich“, auch gegen den eigenen Körper, der unter den Einstichen und Einbissen der skripturalen Penetrationen selbst zu einem Anorganischen mutiert, zu einem gefühllosen „Textkörper“. Ein Fall von ästhetischer Ataraxie: „Ich gehe jetzt mit der Stirn gegen den Stein einer Pyramide schlagen“29, behauptet Emily gleich am Beginn des Stücks und wiederholt damit unmissverständlich – eine Ausnahme im Leerlauf der Interkryptualität – das zweifache Nein Nein von Ingeborg Bachmanns Franza und ihrer ungeheuren „Todesart“. Diese Todes-Art sollte auch als eine Kunst des Todes gelesen werden, als eine Kunst, die den Tod in sich aufhebt. Der Künstler unternimmt die Anstrengung, das Leben im Leben zu mortifizieren, um das Über-Leben des Lebens zu bewahren. Er stellt der Welt ein Artefakt entgegen, das er aber nur aus-formen kann, indem er daran – sich am heterogenen Material abarbeitend – sein Leben lässt. Jedes Artefakt ist ein Petrefakt, alle Kunstwerke tragen – siehe Hegels und Adornos Reflexionen – die ägyptische Pyramide, das steinerne Grabmal als Paradigma des Zeichens und der ästhetischen Dauer in sich. Und mit der Schrift petrifiziert der Schriftsteller: In metaphorischer Gefolgschaft des Hegelschen Diktums, der Geist sei ein Knochen, legt er sein Fleisch ab, seine Knochen frei und vollführt im Prozess der doppelten ästhetischen Negation einen Akt der Selbstversteinerung. Zurück bleibt sein untoter Textkörper, dessen Urbild, ja wahrscheinlich sogar dessen Ursprung, im beschrifteten Stein, im Grab-Stein liegt. Die Literatur der Moderne führt – was die poetologische Selbstreflexion ihrer Autoren betrifft – zurück ins Lithologische. „Dieser lachende Stein Kunst“, heißt es in Jelineks „Oh Wildnis, Oh Schutz vor ihr“: „Die Kunst ist nicht menschlich, und sie trägt auch kein menschliches Gesicht“.30 Wenn der „Stein Kunst“ lacht, dann zeigt er uns seine Zähne. Ja, jedes Lachen – wir folgen hier Nietzsches Spekulation – ist ein Zähne-Zeigen: zivilisatorische Grundgeste, die den Wunsch, den anderen im Augenblick seiner Schwäche zu verschlingen, durch Schadenfreude ersetzt. Statt die Zähne ins Fleisch des Gestolperten zu schlagen, entlädt sich die Lust im Reflex des Lachmuskels. Das Lachen des Steins, von dem Jelinek spricht, ist die Hoffnung auf das Wort, das nicht mehr tötet. Das versteinerte Lachen der Literatur ist das Versprechen einer Vernunft, die dem Leben keine Gewalt mehr zufügt: Erlösung des Geistes vom Gespenst seiner mythologischen Heimsuchung.31 Die leidige Frage, die man – um es zu richten – so oft an Jelineks Werk richtet, ob es denn auch eine Utopie, eine „Moral“, eine Hoffnung auf Verbesserung der Gesellschaft in sich einschließe, kann nur von einer Position aus gestellt werden, an deren Ort der Geist der ästhetischen Negativität nicht begriffen wurde. Gerade um dem Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist darin jede positive Moralität und – gemeinsam mit deren verlogenen Ansprüchen – die Aussage der Sprache zertrümmert worden. Es gibt keine Moral der Geschichte mehr, es gibt nur noch eine Ethik der Lektüre.
Als spectropoetisches Postskriptum sei hier noch hinzugefügt, dass die literarischen Werke, auch wenn sie auf den tödlichen Biss verzichten, sich ihre Leser doch zur Gänze einverleiben. Wer sich auf Literatur – wie man sagt – mit Leib und Seele einlässt, der genießt, konsumiert, verschlingt keine Texte mehr, sondern wird im Gegenteil von ihnen verschlungen. Der Leser, die Ethik der Lektüre und somit den Prozess des Schreibens wi(e)derholend, folgt dem Autor auf einem gespenstischen Weg, der ihn einspinnt in die Frage nach dem Ort seiner Existenz. Nicht Orientierung, sondern Orientierungslosigkeit ist das Ziel großer Literatur: „Sie sagt mir nichts“, heißt es in Jelineks „Neid“ (2. Kapitel, 22), „also muß ich alles erfinden. Entsetzlich. Die einsame Landstraße windet sich jetzt durch hügeliges Gelände und steigt dann gegen die Berge hin an, auf eine unsichtbare gedachte Grenzlinie zwischen Belebtem und Unbelebtem zu, wo bin ich?“ Wo bin ich? – Das ist die unheimliche Frage, die Literatur immer wieder an den Menschen stellt, ohne sie selbst beantworten zu können: wo bin ich, wenn ich ich sage?

21. Mai 2007

Rainer Just lehrt Literaturtheorie am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien. Daneben Arbeiten als freier Schriftsteller und Literaturkritiker.

Fußnoten
1) Jelinek, Elfriede: Im Abseits. Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
2) Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995; S. 34
3) Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995; S. 48
4) Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995; S. 543
5) So werden in der Dämonologie jene Toten genannt, die im Grab ihren eigenen Körper auffressen. Sie sind mit den Vampiren eng verwandt. Siehe hierzu etwa den „Dialog über das Schmatzen der Todten“ und andere historische Dokumente in: Sturm, Dieter/Völker, Klaus (Hg.): Von denen Vampiren. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994. Auch Jelinek nimmt dieses Bild des postmortalen Autokannibalismus in ihren Roman auf (Vgl.: „Die Kinder der Toten“, S. 43)
6) Auch wenn sich die Autorin gegen eine Ein-Ordnung in diese Tradition zu wehren wünscht, weil sie, wie sie behauptet, in ihren Texten einen „literarischen Gegenentwurf zu Pornographien wie Bataille oder Apollinaire oder de Sade“ sieht (Zitiert nach: Carola Wiemers/Michael Opitz: „Diese unstillbare Wut“ – Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek; http://www.dradio.de/download/26369)
7) Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995; S. 645
8) Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992; S. 231
9) Jelinek, Elfriede: Im Abseits. Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
10) „Ich habe immer nur nachgesagt. Man hat mir vieles nachgesagt, aber das stimmt fast alles nicht. Ich habe selber nur nachgesagt, und ich behaupte: das ist jetzt das eigentliche Sagen.“ (In Jelineks Nobelpreisrede nachzulesen.)
11) Jelinek, Elfriede: Neid; 1. Kapitel, 59; Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
12) Jelinek, Elfriede: Neid; 2. Kapitel, 13; Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
13) Siehe Jelineks Theaterstück „Babel“.
14) Deren mythologischer Repräsentant selbstverständlich ein untoter Wiedergänger ist, mag er nun als Ahasver, Fliegender Holländer oder Jäger Gracchus durch die Welt und Zeiten geistern. (Siehe zu diesem Motiv: Frank, Manfred: Die unendliche Fahrt. Die Geschichte des Fliegenden Holländers und verwandter Motive. Leipzig: Reclam 1995)
15) Jelinek, Elfriede: Im Abseits. Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
16) „Die große Vielfalt möglicher Bezüge, unter denen Texte zu Texten in ein Verhältnis treten können, wird durch den Begriff der Intertextualität nicht erhellt, sondern eher verdunkelt. Wird das Feld der Relationen zwischen Texten aber systematisch erschlossen, so erweist sich, daß der ‚Intertextualität’ keinesfalls jene Kraft zukommt, um derentwillen J. Kristeva das Konzept eingeführt hatte: die Kraft nämlich, die Identität der Werke zu dezentrieren, die Werke zum Moment eines subjektlosen Prozesses der sich ausspielenden textuellen Differenzen zu machen.“ (Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. von Dorothee Kimmich u. a. Stuttgart: Reclam 2003; S. 359) Stierle übersieht freilich, dass es Kristeva nicht um eine Klassifikation von zwischentextlichen Bezügen geht, sondern um eine grundlegende Theorie des Textes jenseits einer Quellen- und Einflussforschung. Die Verdunkelungsgefahr ist also nicht sehr hoch.
17) Kristeva, die hier ebenfalls zwischen Kafka, Proust und Joyce differenziert, bezeichnet den polyphonen Roman von Joyce als „unlesbar“ im Sinne einer exzessiven Entäußerung der Sprache. Siehe: Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. von Dorothee Kimmich u. a. Stuttgart: Reclam 2003; S. 345
18) Im Zusammenhang mit dem Roman „Neid“, der einen Berg zum Protagonisten der Geschichte macht (buchstäblich seine Ge-Schichten beschreibt), ließe sich von einer Prosa der Ent-Bergung sprechen – mit allen Konnotationen, die sich daraus ergeben. Die Bergung der Toten, die der Text unternimmt, führt unweigerlich in die Geschichte zurück, in das Wiederholen des Verunglückten und von dort in die Hoffnung auf Erlösung: Hebels „Unverhofftes Wiedersehen“ – Ernst Bloch zufolge „die schönste Geschichte der Welt“ – hat diese Bewegung des Toten in der Zeit beispielhaft vorgeschrieben.
19) Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995; S. 650 (In diesem „Fleischwolf“ einer bedrohlichen, destruktiven Sprachkraft ent-deckt Jelinek auch den Demagogen, den „Führer“ und Redner Adolf Hitler, der den Spitznamen „Wolf“ trug.)
20) Jelinek, Elfriede: Im Abseits. Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
21) Klingemanns Roman „Nachtwachen von Bonaventura“ (1804) zählt zu den frühesten und beeindruckendsten  Büchern, in denen sich der Schriftsteller als kritische Nachtmähre einer wahnsinnig gewordenen Gesellschaft inszeniert. Seit der Romantik ist die Nacht die Zeit und das Unterirdische der Ort der poetischen Opposition: „die Schicht unter Tag ist die bedeutendere, wichtigere“ heißt es – Bergwerk und Schreibwerk kurzschließend – in Jelineks „Neid“ (Jelinek, Elfriede: Neid; 2. Kapitel, 21; Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com).
22) Kafka, Franz: Briefe 1902-1924. Frankfurt a. M.: Fischer 1989; S. 384
23) Stokers Roman – ein großartiges Beispiel für eine Phantastik als „Bibliotheksphänomen“ (Foucault) – besteht aus einem Konvolut pseudoauthentischer Textdokumente, die über das Erscheinen des Vampirs berichten: Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsartikel, Protokolle… Graf/Graph Dracula repräsentiert das Symbolische, er – ein Freund der Bücher, ein Bewohner der Bibliothek (dieser anderen Gruft) – entsteht erst aus dem Textgespinst, das seine Gegner – die unvernünftigen Agenten der Vernunft – um ihn weben. Und er überlebt auch in diesem Textkorpus, vielleicht sogar ewig. (Siehe hierzu auch Friedrich Kittlers sehr interessanten Essay „Draculas Vermächtnis“. Wenn Kittler darin unter anderem zu dem Schluss kommt, dass die „modernen Frauen“ um 1890 nur „zwei Optionen: Schreibmaschine oder Vampyrismus“ gehabt hätten, so weist seine Analyse – 1982 geschrieben – eindeutig auf Jelineks Vampirstück „Krankheit oder Moderne Frauen“ voraus. Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993; S. 38f.)
24) Siehe: Foucault, Michel: Die Sprache, unendlich. In: Schriften, Bd. 1; Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001
25) Jelinek, Elfriede: Dieses vampirische Zwischenleben (Interview mit Dieter Bandhauer) In: Die Tageszeitung (TaZ), 9. Mai 1990
26) Jelinek, Elfriede: Im Abseits. Zitiert nach http://www.elfriedejelinek.com
27) Jelinek, Elfriede: Krankheit oder Moderne Frauen. In: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992; S. 235
28) Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992; S. 210
29) Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992; S. 196
30) Jelinek, Elfriede: Oh Wildnis, Oh Schutz vor ihr. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985; S. 180
31) „Indem die Werke das Vergängliche – Leben – zur Dauer verhalten, vorm Tod erretten wollen, töten sie es. Mit Grund wird das Versöhnende der Kunstwerke in ihrer Einheit aufgesucht; darin, daß sie, nach dem antiken Topos, mit dem Speer die Wunde heilen, der sie schlug. Indem die Vernunft, die den Kunstwerken, noch wo sie Zerfall meint, Einheit erwirkt, auf den Eingriff in die Wirklichkeit, auf reale Herrschaft verzichtet, gewinnt Vernunft etwas Schuldloses, obwohl noch den größten Produkten der ästhetischen Einheit das Echo der gesellschaftlichen Gewalt anzuhören ist; […] Die ästhetische Einheit des Mannigfaltigen erscheint, als hätte sie diesem keine Gewalt angetan, sondern wäre aus dem Mannigfaltigen selbst erraten. Dadurch spielt Einheit, real heute wie stets das Entzweiende, in Versöhnung hinüber. In den Kunstwerken läßt die zerstörende Gewalt des Mythos nach, in ihrem Besonderen der jener Wiederholung, welche der Mythos in der Realität verübt, und die das Kunstwerk zur Besonderung zitiert durch den Blick der nächsten Nähe. In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden. Nicht bedeutet sie nach klassizistischem Rezept Versöhnung: diese ist ihre eigene Verhaltensweise, die des Nichtidentischen innewird. Der Geist identifiziert es nicht: er identifiziert sich damit.“ (Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993; S. 202)