Teilaspekt der Dissertation
(für den Nachwuchsworkshop 2016)
Reflexartig wurden nach dem Erscheinen von Die Klavierspielerin (1983) die Verhaltensweisen der Protagonistin Erika Kohut pathologisiert.1) Da psychologische Diskurse im Text angelegt sind, ist dies auch wenig verwunderlich. Der Text bietet die Erklärungsmodelle für die psychologischen Interpretationen nicht nur an – er schreit sie den Rezensierenden förmlich entgegen. Dass diese im Text angelegten Bezüge nicht als Interpretationshilfen für die Figur Erika dienen, sondern als Meta-Kommentare fungieren, wurde mittlerweile herausgearbeitet.2) Obwohl eine Pathologisierung den Vorteil hat, Verhaltensmuster aufzuspüren und die Figuren verständlicher zu machen, ist dieses Unterfangen natürlich auch mit Risiken verbunden. Sie kann nicht nur den Weg zu weiteren Lesarten auf den Text verstellen, sondern sie bedient sich auch gesellschaftlicher Normen, die im Text Die Klavierspielerin grundsätzlich in der Kritik stehen.
Auch das im Jahre 2008 erschienene Buch Feuchtgebiete von Charlotte Roche rief extreme Reaktionen hervor. Das Verhalten der Protagonistin Helen Memel wurde in den Rezensionen als „eklig“ und „krank“ bewertet und diente als Fallbeispiel für psychologische Abhandlungen.3) Da Helen stark von dem als „normal“ betrachteten Verhalten (einer jungen Frau) abweicht – sie öffnet ihren Körper und verbreitet ihre Sekrete – liegt die Pathologisierung nahe. Allerdings greift auch hier diese Interpretation zu kurz, da dieser Text zwar auf andere Art und Weise – dennoch nicht weniger intensiv – die gesellschaftlichen Normen aufdeckt und angreift.
Es zeigen sich daher starke Parallelen in beiden Werken, sowohl in Hinblick auf deren Absicht, als auch auf ihre Außenwirkung. Allerdings lassen sich auch inhaltliche
Vergleiche ziehen. So thematisieren beide beispielsweise ein „gestörtes“ Mutter-Tochter-Verhältnis und das Öffnen des eigenen Körpers. Im Gegenüberstellen der Werke werden die Probleme der Pathologisierung der Protagonistinnen deutlich. Durch den Vergleich wird herausgestellt, dass Die Klavierspielerin als Folie für Feuchtgebiete fungieren kann und sich somit neue Lesarten ergeben.
Fußnoten
1) Siehe Anja Meyer: Elfriede Jelinek in der Geschlechterpresse. ‚Die Klavierspielerin‘ und ‚Lust‘ im printmedialen Diskurs. Hildesheim: Olms-Weidmann 1994.
2) Herrad Heselhaus: „Textile Schichten“. Elfriede Jelineks Bekenntnisse einer Klavierspielerin. In: Heilmann, Markus / Wägenbaur, Thomas (Hg.): Im Bann der Zeichen. Die Angst vor Verantwortung in Literatur und Literaturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 89–101.
3) z.B. Andreas Bilger: Problem „Feuchtgebiete“. Zwischen Hemmung und Offenheit, Takt und Obszönität: Sprechen über das Körperliche und Anstößige. In: Psychoanalyse im Widerspruch, 45 (2011), S. 63–85.
2.10.2015
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