Julia Schwanke: ‚Die feinen Unterschiede‘ der Männlichkeiten in ausgewählter Prosa Elfriede Jelineks

Dissertation

Abstract

Die männlich gezeichneten Figuren in Jelineks Prosa sind geprägt von patriarchalen Ansprüchen auf eine unhinterfragbare Machtposition. Diese gilt es durch massive Anwendung von Gewalt – vor allem den weiblich gezeichneten Figuren gegenüber – durchzusetzen und zu behaupten. Das Motiv des Herrschaftsanspruches zieht sich durch das gesamte Werk Jelineks.
In Die Ausgesperrten malträtiert Otto Witkowski, ehemaliger SS-Offizier und Kriegsinvalide, seine Ehefrau Gretl wann immer er kann und führt so den Faschismus des NS-Regimes innerhalb seiner kleinbürgerlichen Familie fort. Hans Sepp, der junge Starkstrominstallateur, kämpft mit seiner sozialen Herkunft und übt sexualisierte Gewalt gegen Anna Witkowski aus, wenn er um seine körperliche Stärke und Potenz fürchtet. Rainer, dessen Identität an seiner minderprivilegierten gesellschaftlichen Position zu scheitern droht, weiß sich nur noch mit dem erbarmungslosen Auslöschen seiner gesamten Familie sowie der Leugnung seiner Geschlechtlichkeit zu helfen. Letztlich etabliert auch Walter Klemmer in Die Klavierspielerin seine Machtposition mit der brutalen Vergewaltigung Erika Kohuts, nachdem diese sich eine weibliche Herrschaft anmaßte und damit eine Konkurrenz für Walter darstellte.
Die Rezensionen der Romane sind in weiten Teilen ebenso geprägt von diesen dominanten männlichen Figuren, die auf brutale, triebgesteuerte, gewalttätige Weise eine hegemoniale Position behaupten oder einnehmen möchten.
Ziel der Dissertation ist es daher, eine alternative Lesart dieser Figuren anzubieten. Der Ausgangspunkt hierbei ist die Annahme, dass Jelineks Figuren durchaus subversives Potential für eine alternative Lesart der (männlichen) Figuren bieten. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Jelinek die (männlichen) Figuren im Rahmen patriarchaler Lebensbedingungen mit dem Anspruch ausstattet, schlicht aufgrund ihrer (biologischen) Zugehörigkeit zur dominanten Gruppe der Gesellschaft eine Machtposition innezuhaben. Dieser Anspruch lässt – und das ist die zentrale These – die männlichen gezeichneten Figuren allesamt einen hegemonialen Status im Sinne der australischen Soziologin Raewyn Connells anstreben. Der Soziologe Michael Meuser spricht diesbezüglich davon, dass die hegemoniale Männlichkeit als Ideal für alle Männlichkeitskonstruktionen als generatives Prinzip wirkt. Wie das Streben nach diesem Ideal in Jelineks Prosa sichtbar wird, wird somit ein zentrales Moment der Arbeit sein.
Die Betrachtung einzelner Figuren lässt vermuten, dass letztlich auch die männlichen Figuren im Scheitern begriffen sind. Die männlichen Figuren profitieren nicht ausschließlich vom Patriarchat (von der patriarchalen Dividende etwa), sondern stehen ebenfalls in der Gefahr, durch Devianz an den Anforderungen zu scheitern. Die Abweichungen der Figuren von der Ordnung des Patriarchats werden an vielen Stellen deutlich. Hierzu gehört beispielsweise auch die Abweichung vom Ideal der hegemonialen Männlichkeit in Form einer körperlichen Einschränkung oder einer bestimmten Klassenzugehörigkeit, die Jelinek hervorhebt. In Verbindung mit der zentralen These führt dies zu der Hypothese, dass die Figuren ihre Männlichkeit aufgrund der Sorge, nicht dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit zu entsprechen, als unzulänglich erleben und sich gezwungen sehen, das erlebte Defizit zu kompensieren. Die Kompensationsstrategien gestalten sich vielseitig, jedoch überwiegt die Kompensation durch Gewalt, Aggression und Abwertung von Weiblichkeit.
Darüber hinaus soll die Hypothese untersucht werden, dass die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip klassenübergreifend wirkt: Hegemoniale Männlichkeit gilt unabhängig von der Klassenzugehörigkeit als anzustrebendes Ideal. Aus einer intersektionalen Perspektive ist jedoch anzunehmen, dass sich diese Männlichkeiten je nach Klassenzugehörigkeit allein aufgrund ungleicher Ressourcen unterschiedlich konstituieren. Dies wird vor allem im Roman Die Ausgesperrten untersucht, es werden jedoch auch Parallelen zu Walter Klemmer und Erika Kohut aufgezeigt.
Wenngleich die Figuren massive Gewalt ausüben und um jeden Preis bemüht sind, sich im Kontext einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft als Mächtigster hervorzutun – im Übrigen auch im homosozialen Kontext – und damit die ultimative Männlichkeit zu verkörpern, deckt das Scheitern an den eigenen Anforderungen an eine Männlichkeit das subversive Potential der Figuren auf. Der ironische Umgang der Erzählinstanz mit diesen Figuren ist es, der über die Handlung hinaus stetig darauf aufmerksam macht, dass diese Figuren nicht ernst zu nehmen sind, sondern fast erbärmlich wirken in ihren Bemühungen, was letztlich eine alternative Lesart zusätzlich plausibel macht.
Den weiblich gezeichneten Figuren wird nicht pauschal abgesprochen, sich tendenziell auch eine Männlichkeit aneignen zu können. Daher werden zwei zunächst weiblich gezeichnete Figuren hinsichtlich ihrer Männlichkeitskonstruktion untersucht. Erika Kohut stellt eine Figur mit einer phallischen Anmaßung dar, welche sich mit Walter Klemmer – abseits ihrer Liebesbeziehung – in einer Art der ernsten Spiele des Wettbewerbs im Sinne Bourdieus misst. Anna Witkowski ist sehr darum bemüht, sich jeglicher Weiblichkeit zu entledigen und kanalisiert ihre Wut über ihre defizitäre soziale Position als absteigende Kleinbürgerin und Frau durch körperliche Auseinandersetzungen mit den Opfern der Raubüberfälle. Beide eignen sich traditionell männlich konnotierte Eigenschaften an, um eine Art Herrschafts- bzw. Machtposition einnehmen zu können. Das subversive Potential der weiblich gezeichneten Figuren bezüglich ihrer Aneignung von Männlichkeit besteht somit in einem Empowerment von gesellschaftlich Untergeordneten.

5.10.2016

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