Dissertation
Abstract
Ein Blick in die aktuellen Spielpläne der Theater der Gegenwart offenbart ein offenes und heterogenes Feld von Textformen und Inszenierungsweisen. Klassische Dramen und traditionelle Inszenierungen finden sich neben postdramatischen Arbeiten und der Ästhetik der Neudramatik. Postdramatisches Theater und ebensolche Texte, etwa von Elfriede Jelinek, Peter Handke oder René Pollesch haben sich seit den 1960er Jahren entwickelt. Die Publikumsbeschimpfung (1966) von Handke oder FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust (2012) von Jelinek weisen bereits im Titel auf das selbstreflexive und metatheatrale Potential jener Ästhetik hin. Eine Aufkündigung mit dem „Dreigestirn von Drama, Handlung und Nachahmung“ 1), wie Hans-Thies Lehmann es in seiner Monografie Postdramatisches Theater beschreibt, führt beispielsweise zu einer Entpersonalisierung der Figuren, zu einer Monologisierung der Dialogstruktur, zu einem Bruch mit dem Anspruch auf kausal-logische Wiedergabe eines Geschehens. Neben der Postdramatik entwickelt sich zudem seit den 1990er Jahren mit AutorInnen und RegisseurInnen wie Dea Loher und Roland Schimmelpfennig die sogenannte Neudramatik. Eine ‚Rückkehr zum Dramatischen‘, die diesen Theatertexten im literatur- und theaterwissenschaftlichen Diskurs zugeschrieben wird, wird dabei zugleich durch ästhetische Strategien wie Perspektivwechsel, Zeitsprünge und die Verwendung illusionsbrechender Stilmittel aufgestört.
Die Methode der Literaturwissenschaft zur Analyse von Dramen und Theatertexten, die Dramenanalyse, trägt dieser Heterogenität begriffstheoretisch jedoch nicht Rechnung. Einschlägige Einführungen in die Dramenanalyse richten ihre Untersuchungsaspekte wie Handlung, Figur, Sprache (dramatische Rede), Raum und Zeit historisch einseitig an der Poetik des Aristoteles (335 v. Chr.) sowie an einschlägigen dramen- und theatertheoretischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus; vorrangig an Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) oder an Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie (1767-69). Es zeigt sich eine deutliche Divergenz zwischen der literaturwissenschaftlichen Forschung und den innovativen Entwicklungen der theatralen Praxis. Vor diesem Hintergrund wird das vorliegende Promotionsprojekt das Desiderat eines revidierten Instrumentariums zur Dramen- und Theatertextanalyse schließen. Die umfangreiche und innovative Forschung zum postdramatischen Werk Elfriede Jelineks stellt dabei einen wichtigen Referenzpunkt für die Entwicklung einer profilierten Methode und für eine kritische Reflexion dramenanalytischer Konstituenten dar. Ziel der Arbeit ist es, sowohl einen dramenanalytischen Zugang zu Theatertexten zu ermöglichen, als auch jene Textstrategien und dramaturgische Verfahren in Dramen des 18. und 19. Jahrhunderts aufzudecken, die mit dem historisch einseitig ausgerichteten Instrumentarium der Dramenanalyse bisher kaum erfasst werden konnten. Das Untersuchungsmaterial erstreckt sich damit von Dramen des 18. und 19. Jahrhunderts über jene zur Zeit der ‚Krise des Dramas‘ (Szondi) um 1900, bis hin zu post- und neudramatischen Theatertexten.
1) Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main : Verl. der Autoren 1999, S. 35.
4.10.2016
4.10.2016
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