Timo Pichler: „Die Kinder der Toten“ im Spiegel der literarischen Memoria. Österreichische und französische Fremdheitserfahrungen mit dem Roman Elfriede Jelineks sowie dessen Bedeutung für eine europäische Erinnerungskultur

Dissertation

Abstract

Elfriede Jelinek hält in ihrem Roman Die Kinder der Toten Österreich den Spiegel der eigenen Vergangenheit vor und thematisiert die dunkelsten Jahre der österreichischen Geschichte. Sie beweist zudem einen feinen Blick auf die gesellschaftlichen Vorgänge bzw. auf die vergesellschaftete Verdrängung, die Österreich bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beherrschte.
Die Dissertation soll eine umfassende Interpretation und Diskussion des Romans darstellen, der verschiedene Konzepte und Theoreme der Kultur- und Geisteswissenschaften zugrunde liegen. Zwei Theoreme, die in dieser Diskussion besonders miteinander verknüpft werden sollen, sind die Psychoanalyse und die interdisziplinäre Gedächtnisforschung. Es sollen unter diesem Gesichtspunkt jene Aspekte des Romans diskutiert werden, die einen Bezug zur Dichotomie Erinnern-Vergessen herstellen, wobei der Verdrängung bzw. dem österreichischen Ver-drängungsprozess der eigenen NS-Vergangenheit besondere Aufmerksamkeit zukommt. Auf Freuds Theorie basierend, soll der Roman also dahingehend interpretiert werden, um diesen kollektiven – und z.T. staatlich gelenkten – Verdrängungsprozess in Österreich und in der österreichischen Identität nachzuzeichnen und um zu zeigen, inwiefern der massive Bruch mit dieser österreichischen „Verdrängungskultur“ der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Fremdheitserfahrung für österreichische Leserinnen und Leser darstellt. In Bezug auf österreichische Fremdheitserfahrungen mit dem Roman soll geklärt werden, inwiefern auch religiöse Inhalte des kollektiven Gedächtnisses zu einer ebensolchen beitragen. Die Literatur Österreichs war – bzw. ist es nach wie vor – stark vom Katholizismus geprägt, weswegen besprochen werden soll, wie Elemente des Satanischen (unter besonderer Rücksichtnahme auf Josef Dvorak, dem die Autorin auch dankt) eine profunde (evtl. sogar unbewusste) Fremdheit gegenüber diesem Roman auslösen, oder um es mit Freud auszudrücken, ihn unheimlich erscheinen lassen. Das unheimliche Potential des Romans – um gleich daran anzuschließen – soll unter der Berücksichtigung der ästhetischen Fragestellung nach der Realitätsprüfung analysiert werden, wobei hier Theorien des französischen Philosophen Jacques Derrida als Basis dienen sollen.
Der Roman soll – und damit wird die Idee der Fremdheitserfahrung weitergetragen – auch nach der Dekonstruktion gelesen werden. Jelinek spielt insofern mit ihrem Publikum, da sie gesellschaftlich etablierte Oppositionen aufhebt bzw. deren Grenzen verschwimmen lässt. Ganz konkret sollen dabei u.a. die Oppositionen Leben-Tod sowie die Opposition Erzähler-Leser auf textimmanenter Ebene diskutiert werden. Jelinek versteht es durch ganz bestimmte Mechanismen, ihre Leserinnen und Leser in den Text hineinzuziehen bzw. so miteinzubeziehen, als würde man gemeinsam mit der Erzählstimme an der Kameraführung beteiligt sein. Die Theorie der Dekonstruktion soll zudem dahingehend angewendet werden, um zu analy-sieren, wer nun tatsächlich im Roman spricht. Der Roman ist durch die (Schein-)Präsenz eines Anderen gekennzeichnet (ganz im Sinne Derridas), wodurch dem Leser vermittelt wird, dass noch etwas nicht Ausgedrücktes in den Darstellungen anwesend zu sein scheint. Dieses Andere – bitte das zunächst nur als subjektives Gefühl während der persönlichen Lektüre zu verstehen – soll versucht werden, als etwas zu charakterisieren, dass die Masse der Toten im gesamten Roman – auch als weiteres unheimliches Element – allgegenwärtig werden lässt.
Die Theorie der Intertextualität soll die Arbeit insofern bereichern, da gezeigt werden soll, welche Texte Jelinek beeinflusst haben bzw. wie diese auch im Roman repräsentiert sind. Zudem soll der Roman auch dahingehend gedeutet werden, inwiefern er auf ein europäisches kulturelles Gedächtnis zurückgreift und bedeutende kulturhistorische Texte dekonstruiert, sie desillusioniert und gewissermaßen als Antithese zu diesen gelesen werden kann.
Ganz im Sinne eines europäischen Kollektivgedächtnisses bzw. einer europäischen Erinnerungskultur – in diesen Bereich fällt auch der eben genannte intertextuelle Aspekt – soll auch die Rezeption des Romans im französischen Literaturraum diskutiert werden. Wieder unter dem Leitgedanken der Fremdheitserfahrung soll gezeigt werden, inwiefern die Übersetzung bzw. der Roman mit seinen Inhalten selbst befremdlich auf französische Leserinnen und Leser wirkt. Selbst wenn durch die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 eine gewisse Universalität der Jelinek’schen Sprache und Lektüre impliziert wurde und da der Übersetzer Olivier Le Lay darauf verweist, dass der Roman „traduit de l’allemand (Autriche)“ sei, müssen in ihm Spuren einer literarischen österreichischen Identität vorhanden sein. Diese Frage nach einer österreichischen Literatur, die noch immer nicht restlos geklärt zu sein scheint, sollen z.T. aus französischer Perspektive anhand von befremdlichen Inhalten, aber auch anhand ei-ner befremdlichen Sprache diskutiert werden. In diesem Zusammenhang können die E-Mails aus dem Verkehr zwischen der Autorin und dem Übersetzer ausgewertet werden und dienli-che Hinweise für das Verständnis von österreichischer Literatur liefern.
Wie bereits oben ausgeführt, sollen Fremdheitserfahrungen mit dem Roman Die Kinder der Toten untersucht werden. Im Zentrum der Arbeit steht die These, dass der Roman eben nicht nur befremdlich auf ein österreichisches Publikum wirkt, sondern auch auf ein europäisches, wobei es gilt, eben genau diese Aspekte des Romans herauszuarbeiten und zu interpretieren, die als Auslöser für solche Fremdheitserfahrungen (man denke an die Pressestimmen nach Erscheinen des Romans) fungieren können. Werden österreichische Fremdheitserfahrungen mit dem Roman diskutiert, so sollen besonders der Konnex zur Verdrängung der Täterrolle Österreichs während der NS-Zeit im Zentrum des Interesses stehen, aber auch Veränderungen in der österreichischen Gesellschaft, die die Autorin scharfsinnig erkennt und ihrem Publikum präsentiert.
Der Versuch, eine Antwort auf die Frage nach europäischen Fremdheitserfahrungen zu geben, soll zunächst mittels einer breitangelegten intertextuellen Analyse erfolgen, deren Absicht es sein wird, zu zeigen, welche Texte und Strömungen der europäischen Geistesgeschichte einen Einfluss auf den Roman haben und wie er sich gewissermaßen als Antithese zu diesen versteht. Als Fokussierung auf einen weiteren europäischen Literaturraum sollen auch Fremdheitser-fahrungen des französischen Publikums herausgearbeitet werden. Diese beiden Thesen, einerseits, dass sich der Roman als Antithese zu bedeutenden Texten der europäischen Geistes-geschichte lesen lässt, und andererseits, dass er auch auf französischsprachige Leserinnen und Leser befremdlich wirkt, soll seine Einbettung in eine europäische Erinnerungskultur und seine Bedeutung für eine solche unterstreichen. Vor dem Hintergrund der Anmerkung „traduit de l’allemand (Autriche)“ soll mittels der französischen Übersetzung auch die These überprüft werden, dass sich der Roman, aller Befremdlichkeiten zum Trotz, dennoch als repräsentatives Werk der österreichischen Literatur zu gelten hat, da ansonsten ein derartiger Hinweis obsolet wäre.

5.12.2017

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