Liselotte Van der Gucht & Jeanne Verwee: Die tote Frau spricht: neurodiverse Sprache in Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“

für den Nachwuchsworkshop 2022

Autorinnen sterben für die Kunst – buchstäblich, so Elfriede Jelinek. Dass viele Frauen heute Literatur veröffentlichen, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Autorinnen sich immer noch in einem “männlichen Ich” verkleiden müssen und ihre Texte bei der Rezeption weitgehend auf einen mythisierten biographischen Körper zurückgeführt werden.
Während der männliche Autor tot sein darf und seine Texte sprechen lässt, werden weibliche Autorinnen ständig zum Aussprechen ihres biografischen Ichs gezwungen. Jelinek reagiert auf dieses Ungleichgewicht, indem sie eine verkörperte Sprache des Widerstands ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Nicht nur widerstandsfähige lebende Autorinnen, wie sie selbst, sondern auch tote Frauen reden auf diese Art und Weise mit. Während schweigende Körper in der Regel ein beliebtes Opfer der „Männerliteratur“ sind, verleiht Jelinek ihnen eine neurodiverse Gegensprache, mit der die tote Frau ihren eigenen Körper zurückfordert.

In ihrem Theaterstück Ulrike Maria Stuart (2006) bringt Jelinek zwei mythisierte Frauen, Maria Stuart und Ulrike Meinhof, in die Figur Ulrike Maria Stuart zusammen, die in Konkurrenz mit Elisabeth I/Gudrun Ensslin auf die Bühne treten. In diesem Beitrag wollen wir untersuchen, auf welche Art und Weise Jelinek diese toten Frauen zum Sprechen bringt. Eine neurodiverse Perspektive auf Sprache lenkt den Blick auf verkörperte Formen der Unterdrückung und erlaubt eine Neuinterpretation der Gefühlslosigkeit und der Antipsychologie, auf die Jelineks Werke generell reduziert werden. Ausgehend von der im Stück offen herausgestellten Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust der Protagonistinnen, soll vor dem Hintergrund des Konzeptes Neurodiversität dargestellt werden, die Frau eine ‚gemietete‘ Sprache verwendet, die nicht selbstverständlich die ihrige ist, sondern trotz und gleichzeitig wegen Unterdrückung zustande kommt. Sie strukturiert ihre Rede mithilfe von spielerischen Bewältigungsstrategien und Kontrollmechanismen so, dass sie überhaupt sprechen kann. Indem Jelinek die tote Frau im Kampf mit der Sprache aufführt, zeigt sie sie als zerbrechliche, dafür aber nicht weniger mächtige Stimmen.

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