Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens (Buchvorstellung)

AnnußWer spricht? In dieser Frage gründet die politische Sprengkraft von Elfriede Jelineks Zitierpraxis. An der Schnittstelle zwischen Rhetorik und Theaterwissenschaft analysiert Evelyn Annuß exemplarisch, wie Jelineks Stücke durch die darin erprobte Form der Rede die Aufführungsbedingungen stellvertretenden Sprechens reflektieren und hierzu die theatrale Situation in Anspruch nehmen: Als Krisenexperimente personaler Referenz zeugen sie vom Mechanismus einer Theatralik des Persönlichen, die die Lesbarkeit von Politik und Geschichte nahe legt und zugleich verstellt. Von diesem Befund aus eröffnet Theater des Nachlebens den Ausblick auf ein potenzielles ‚Theater der Zukunft‘, das sich im Streit über die Voraussetzungen gegenwärtiger Politik konstituiert. Geschult an den benjaminschen Überlegungen zum mortifizierenden Charakter des Zitierens, wird Erinnerung von Annuß als eine Praxis begriffen, die das Gewesene rekontextualisiert und somit als Entstelltes fortdauern lässt. Diese Einsicht überträgt Theater des Nachlebens auf die Figur der Rede. Als Ausgangspunkt dient Jelineks Spiel mit einer besonderen rhetorischen Versuchsanordnung: der zitathaften Rede über ‚sich selbst‘. Das solchermaßen reflexiv zitierende Sprechen präsentiert nicht einfach den Inhalt des Gesagten, sondern die Figur der Rede als Zitat. Es offenbart die Darstellungsbedingungen der sprechenden Instanz. Vom Formprinzip Jelineks aus macht Theater des Nachlebens die Figur der Rede als posthume Fiktion kenntlich: als nachträgliche Gegebenheit des Orts, von dem aus gesprochen wird. Sie erweist sich mithin als Figur des Nachlebens. Diese Bestimmung der sprechenden Instanz, die im Rekurs auf die poststrukturalistische Rhetorik entwickelt wird, bezieht Theater des Nachlebens erstmals auf die Bühnensituation: Weil die reflexive Form der Rede die Darstellbarkeit einer sprechenden persona unterläuft, kann der Schauspieler nicht als deren leibhaftiger Referent erscheinen. Sein Körper aber muss auf der Szene bleiben, um das Zitierte von einer offenkundig arbiträren Position aus zur Sprache zu bringen. Während sich die paradoxalen Referenzen der selbstbezüglich zitierenden Figurenrede in der Unabsehbarkeit des intertextuellen Raums verflüchtigen, macht der darstellerisch ‚überflüssige‘ Schauspielerkörper auf die Trägerschaft und je spezifische Ortsgebundenheit des Zitierten aufmerksam. Aus diesem Blickwinkel lotet Theater des Nachlebens in detaillierten Lektüren aus, wie Jelinek unterschiedliche historische Wiedergaberäume ins Gedächtnis ruft, um die Figur der Rede als Figur geschichtlichen Verstehens kenntlich zu machen. Am jeweiligen Formzitat – unter anderem am neuzeitlichen Drama und dem Wiener Volkstheater – wird die politische Funktionalisierbarkeit dieser Figur erforscht. Die Studie nimmt drei Akzentsetzungen vor: Rhetorik, Szene, öffentliche Verlautbarung. Auf diesen Ebenen arbeitet Annuß den Effekt von Jelineks Formprinzip und dessen besondere Beziehung sowohl zum brechtschen Lehrstücktheater als auch zur Tradition allegorischer Darstellung heraus. Gezeigt wird, wie sich Jelineks Texte immer neu und in je spezifischer Weise der Potenz der Rede widersetzen, fingierten Kollektiva das Gesicht einer Person zu verleihen, das sich von einem Schauspieler verkörpern ließe. Entsprechend erkundet Theater des Nachlebens die in der Praxis des Zitierens offenbar werdende Möglichkeit zukünftiger Widerrede gegen die Suggestion kollektiven Einverständnisses. So wird der Anspruch auf eine Form des Politischen erhoben, die sich der Schließung zur einheitlichen, überzeitlichen Kollektivgestalt widersetzt: In diesem Zusammenhang schlägt Annuß ein anderes Denken des Politischen vor. Es wird als ein Denken entworfen, das die eigene als immer schon verliehene Stimme anerkennt, sich dem ersten wie dem letzten Wort verweigert und für das Nachleben jener namenlosen Stimmen öffnet, die in personalisierenden Repräsentationsformen untergehen.

24.3.2006

Evelyn Annuß (Berlin): Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens (München: Wilhelm Fink Verlag 2005)

Evelyn Annuß ist Literatur- und Theaterwissenschaftlerin; Promotion 2005; Veröffentlichungen u.a. zu Elfriede Jelinek, künstlichen Menschen in der Literaturgeschichte und zur Soziologie der Geschlechterforschung; arbeitet z.Zt. an einem Forschungsprojekt über chorische Auftrittsformen im Theater.