Christiane Zintzen: Arbeit am Alibi

Die Autorin stellt einen Text ins Netz und wirft ein Netz darüber: Das ist ein PRIVATROMAN. Blickt durch die Maschen am WWW-Draht und deklariert: Hier beginnt der Zoo der Wörter, Sätze und Gestalten: No trespassing. Nicht füttern und nicht berühren! Noli me tangere, denn die Genannten sind sämtlich Fleisch von meinem Fleisch, Geist von meinem Geist. Blümlein Rührmichnichtan,Touch-me-not, Mimosa pudica. Das Recht, ihr Wesen auf- und abzuspalten und deren Splitter in Figuren, Formen zu fügen, behält sich die Creatrix vor: Da soll und da kann ihr diesmal keiner was weg- und rausschneiden. Wie es Mutter Natur seit je widerfährt. Und den vielen, von den Moosbruggers aller Couleur aufgeschlitzten Jelinek- Frauen.
Elfriede Jelineks Textlaufwerk NEID sitzt als PRIVATROMAN im Netz: von A bis Z abgesperrt durch den Stacheldrahtverhau eines absoluten Zitierverbotes. Das zeugt vom Willen, die Werk werdende Privatobsession und hermetische Individualmythologie auch materiell gegen das Draussen zu versiegeln: „hermetisch abdichten“, ein Begriff aus der Alchemie, auf Neudeutsch „wasserdicht machen“. – Imperméable. Ein Alibi. – Pikierte Berichte erweisen, dass und wie auch das wasserdichte Alibi forensisch verhandelbar wird. Auf dem Forum der Öffentlichkeit und vor ihren Tribunalen. Nun sind es die Literaturgerichtsbarkeit der Kritik sowie die philologischen Verwertungs- und Ausschlachtungsdisziplinen, deren Hieb-, Stich- und Schneid-Instrumente an den von der Autorin ex cathedra versiegelten Geschichten abgleiten: „Ob sie“, droht Burkhard Müller in der SZ, „den Unlustfaktor bei der Lektüre tatsächlich so leichterhand erhöhen möchte, wie sie es hier tut, das sollte sich vielleicht gerade Elfriede Jelinek genau überlegen.“
Seht her, wie er dasteht, der Text, vor aller Augen, mitten im Netz: öffentlichste aller Öffentlichkeiten, zugleich Verwirrkabinett des Virtuellen. Irgendwo gibt es einen Text, vielleicht diesen Text, unter dieser Webadresse, auf jenem Server. Existiert diese „Roman“-Fläche, welche sich vorderhand nur als Stückwerk gibt, indes wirklich? Also gegenständlich wie seine gedruckten „faux amis“ – die in Lettern gesetzten, dem Papier aufgestanzten, gepressten, beschnittenen, gebundenen und unfrei versandten Bücher ? – Ist das, was da im Netz steht – eventuell sich peu à peu dem „Peeping Reader“ weiter preisgeben wird – tatsächlich das Ab- und Eben-Bild eines realexistierenden Werkes ? – So wären wir’s jedenfalls gewöhnt, beanspruchen wir Gewohnheitsrechte. – Oder ist nicht vielmehr sogar das fiktionale Werk selbst eine Fiktion, aufgezogen auf die Kulisse einer Webseite ? – Das Netz als platonische Höhle: Auf unseren vielen kleinen Flimmerschirmen sehen wir Licht- und Schattenspiele. Die Brechung eines noch nicht umbrochenen „Romans“. Offenes Buch mit sieben Siegeln. Rather „Scroller“ than „Page-turner“.
Geil wollen wir hingreifen, „copy und paste“, im hermeneutischen Wettlauf losstarten: Wer weiss es schon, wer berichtet noch nicht, wer hat das bessere Interview, die vifere (Be-) Deutung. Das Rattenrennen des Literaturbetriebs betrachtet sich selbst als im Hamsterrad rasend. Textferner Leerlauf. – Wer hat noch nicht, wer will noch mal, die Geschichte geht im Kreise: DER STANDARD (7. 4.), Wiener Zeitung (12. 4.), FR (14. 4.), börsenblatt, 16. 4., turi-2.blog.de, (16. 4.), FAZ-Artikel + Interview (17. 4.), SZ (17. 4.), Welt-Online (17. 4.), taz (21. 4.) . . . Gong ! und ausgezählt für die erste Runde, die das fremdartige Genreding mit teils spitzen, teils leicht angewiderten Fingern fasste. Auch Kränkung ist im Spiel: NEID ist somit nicht nur Thema, sondern auch Effekt eines „Fort“-/“Da“-Manövers, für welches die Autorin im Medium des Virtuellen ein virtuoses Vehikel entwickelt. Der Link zwischen PRIVATEN Lastern und ÖFFENTLICHEN Vorteilen ist seit Bernard Mandevilles „The Fable of The Bees: or, Private Vices Publick Benefits“ stichhaltig:

„Nicht minder dient der Neid sowie Die Eitelkeit der Industrie.“

Dies klemmt just dem Journalismus seit jeher hinter dem Spiegel. Nicht nur dem Wochenblatt, welches maliziös-männlicher Hysterie vier volle Seiten M & Ms gewährte. Neid auf die Autorin, die ihre Wörter in einem zwiefachen Exhibitionismus „privat“ und „für sich“ behält. Ein Exhibitionismus zur Potenz: Ich zeige, dass ich zeige, und damit zeig ich’s euch. Den Text ausstellen, als wär’s ein Bild, ein Gemälde: Das ja auch nicht jedermanns „sticky fingers“ auf- und ausgreifen dürfen. Von dem sich nicht jedefrau ein Stückerl abschneiden darf. Kein – frei nach Valie Export – „Tapp- und Tast-Text“ eben.
Auf- und ausgestellt hinter Glas. Flachware in Vitrine. Cam-Cording eines Dort. Ort des Textes: Das ist der Autorin „Hortus Conclusus“. Wo wir – bei aller Illusion von Nähe – eben nicht sind. Nie sein werden. Wir haben die Sache eben nicht – wie die Filmsprache sagt – „im Kasten“. Der Aus-Druck, welchen wir selbst erledigen, mag Abbild sein, Anschein, wird aber Falschgeld bleiben. Was von Seiten der Autorin nie für „gut zum Druck“ und „fit to print“ befunden, bietet uns weder Kopf noch Zahl von irgend barer Münze. Kein Hartgeld im Business der Kommentare. Allenfalls Options- und Spekulationsgeschäft: Ein „Work in Progress“ als Schweinehälfte. Handel mit Derivaten. Wie dies Brouillon hier eines ist: Effekt der Projektionen eines TFT-Displays.
Der „Privatroman“ erscheint im Bullauge unseres Monitors und – Jelinek selbst gibt das Bild – wird dort eingesargt und ausgestellt wie in einer Monstranz. Die BeWerkstelligung in der Stille der Heimstatt wird der „Societé du Spectacle“ – so Jelinek gegenüber der FAZ – „entgegengehalten wie etwas Magisches, wie – für die Katholiken – eine Monstranz den Gläubigen“. Wer dächte in diesem katholisch-barocken Kontext nicht an Joseph Mosers makabre Kolomanimonstranz (1752) zu Melk: Der untere Teil der Hostienkapsel besteht aus der Reliquie – dem Unterkiefer ! – des Hl. Koloman, des Schutzheiligen der Gehängten, der Reisenden (wie Hermes) und des Viehs. – Schlingen hermetischer Verschlingungen: Ist es der Leser, welcher – dem alten Bild der Ruminatio gemäss – den Text wiederkäut und verschlingt oder ist es umgekehrt: Verschlingt der „deep throat“ des Monitors nicht allmählich den Leser? – Mit TV-Verlaub gesagt: „Lesen!“

1.5.2007

© czz c/o zintzen.org

Christiane Zintzen ist Kulturwissenschafterin, Literaturkritikerin (NZZ), Bildautorin, Producerin der Reihe Literatur als Radiokunst / ORF – Kunstradio. Arbeit am Alibi ist auch nachzulesen im Weblog zintzen.org.