Ester Saletta: Die Allegorie „des Sehens“ in Hieronymus Boschs Tafelbild „Die sieben Todsünden“ und in Elfriede Jelineks Fortsetzungs-Roman „Neid“

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Als ich das erste Mal Elfriede Jelineks neuen Fortsetzungs-Roman Neid. Ein Privatroman auf der Homepage der österreichischen Nobelpreisträgerin las, habe ich mich nicht geschämt, als Germanistin und Jelinek-Forscherin zu behaupten, daß ich diesmal im Vergleich zu den anderen früheren Werken Jelineks größere Schwierigkeiten hatte, Inhalt und Struktur der Narration mit dem Titel der Arbeit sowie auch mit der Entscheidung der Autorin, Hieronymus Boschs Tafelbild Die sieben Todsünden und die vier letzten Dinge (1475-1480) als Illustrationsmittel für jedes Kapitel zu wählen, zu verbinden. Der Grund meiner hermeneutischen Schwierigkeit lag nicht nur in der Tatsache, daß das Neid-Motiv nur am Ende des zweiten Kapitels auftaucht, sondern auch darin, daß Jelinek ihre gewöhnliche Tendenz zum literarischen Experimentieren und zur Verwirklichung einer vielschichtigen panoptischen Kulturkolportage diesmal mehr denn je mit kryptischer Innovation und unbestrittenem Erfolg verwirklicht hat. Nur nach vielen Überlegungen und symbolisch-semantischer Assoziationsfähigkeit glaube ich, Jelineks Botschaft entschlüsselt zu haben. Ich werde in diesem Aufsatz versuchen, meine Interpretation, die parallel zur allegorischen Bedeutung des „Sehens“ bzw. des Neides als unentbehrlicher Lebensstrategie für die Konstruktion der menschlichen Identität verläuft, zu verdeutlichen.
Die Tendenz der heutigen Zeit, Literatur im Internet zu veröffentlichen und Jelineks Vorliebe für multimediale Mittel als Kommunikationsmittel im Sinne einer „Unfassbarkeit der Kunst“, die die Autorin durch das Beispiel der Musik in der Gegenüberstellung mit der Natur in Neid. Ein Privatroman darstellt – „Musik ist, wie jede Kunst, die keine ist, das Gegenteil von Natur, und sie sagt das, was unfaßbar ist, während die Natur durch Loipen, Pisten und Golfplätze eingefaßt und erfaßt werden kann. […] Musik ist etwas, das man eigentlich gar nicht fassen kann, deshalb scheue ich mich ja so, etwas über sie auszusagen.“ (Neid 1, 6-70) -, macht transparent, wie Elfriede Jelinek ein literarisches multimediales visuelles Produkt für alle Literaturliebhaber auf der ganzen Welt hergestellt hat. Es geht dabei einerseits um eine schnelllebige Literatur, die nur konsumiert wird bzw. andererseits um eine literarische Kultur, die für alle Internetsurfer abrufbar ist.
Die neu in 82 bzw. 24 erschienenen Bilder-Kapitel zeigen kein Stationenwerk im Sinne von Bertolt Brechts Dramenkunst, sondern mehr eine Reihenfolge von „virtuellen“ bzw. „sichtbaren“ alltäglichen Ereignissen, die, wenn sie auch keine traditionelle chronologische Ordnung in sich tragen, trotzdem eine erzählerische Kohäsion durch die konstante Anwesenheit der Figur der Hauptdarstellerin Brigitte K. haben. Das Resultat ist, dass der Leser sich auch diesmal, wie es bei Jelineks Kunst immer der Fall ist, nur ab und zu in dem scheinbar und absichtlich gewollten chaotischen Wirbel der Tatsachen zurechtfinden kann. Das ist möglich, wenn man die Isotopien, d.h. den roten Faden des Textdiskurses dekodiert. Die Rede ist hier von Motiven, die zweifellos eine thematische Gemeinsamkeit mit Jelineks früherer literarischer Produktion aufweisen und mit denen man schon seit langem vertraut ist. Unglückliche Ehen, weibliche Unzufriedenheit, Verlassenheit und Einsamkeit sind einige der Kontaktpunkte zwischen Jelineks Neid und den Romanen Lust und Die Liebhaberinnen, in denen die partielle Namenlosigkeit der weiblichen Charaktere und ihrer Zuneigung für die Welt der Musik an die Gestalten Kafkas bzw. an die Biographie der Autorin selbst erinnern. Nicht zufällig ist die Tatsache, daß nicht nur Elfriede Jelinek selbst, sondern auch schon Erika Kohut in Die Klavierspielerin und Brigitte K. in Neid Musikerinnen bzw. Geigen- oder Klavierspielerinnen sind. Letztere lebt in Bruck a. d. Mur, einer Gespensterstadt an der Grenze zwischen einer ehemaligen industriellen Fortschrittswelt und einer ländlichen Atmosphäre, wie es auch bei den Romanfiguren Paula und Brigitte aus Lust der Fall war. All diese Gemeinsamkeiten bilden den nötigen Rahmen, um die Textgemeinsamkeit par excellence vorzustellen. Ich beziehe mich hier auf das schon in Jelineks Michael bearbeitete Thema einer multimedialen, globalisierten und gleichzeitig relativierten heutigen Gesellschaft der Massenkommunikation und des radikalen Werteverfalls (Neid 1,10), in der das christlich-moralische „göttliche Auge“ der mittelalterlichen Tradition – Boschs Werk ist hier ein bedeutendes Beispiel – durch das von George Orwell in dem Roman 1984 thematisierte „Big Brother’s Eye“ – eine versteckte Fernsehkamera – ersetzt wird. Die von Hieronymus Bosch um die Iris eines wachsamen „Auge Gottes“ herum abgebildete kreisförmige Komposition ist in sieben Einzelszenen strukturiert, die durch Säulen voneinander getrennt sind. Die Einzelszenen sind nicht gleich groß. Eine neue ikonographische Darstellung der sieben Todsünden wird mitgeteilt. Sowohl die Ira, die durch ihre Anordnung unterhalb des inneren Kreises eine zentrale Stellung einnimmt, als auch die Habgier nehmen den größten Raum ein. Mit dieser merkwürdigen Verschiebung hat Bosch die theologische Sünde des Hochmuts nicht in einen starken Kontrast zu dem zentralen Schmerzensmann gesetzt, wie jene zwei grobstofflichen Versündigungen und gemeinen Laster. Am Ende der Sieben-Todsünden-Tafel steht der Neid. Die Szenerie spielt sich vor dem Hause eines Zöllners ab, der den Pflasterzoll erhebt. Dessen Tochter hinter dem Schalter verdreht gerade einem reisenden Bürger den Kopf. Der Gefährte von ihm wartet mit einem Falken auf der Faust – auch hier ist die assoziativ allegorische Bedeutung des Falken mit der symbolischen Tradition des Mittelalters als Bild des scharfen Sehens zu lesen – und wirft neidvolle Blicke in Richtung des Paares auf den Fortgang der Reise. Der Zöllner selbst, der den Reisegefährten mit spitzbübischer Verachtung anzuschauen scheint, lockt seine kläffenden Hunde mit einem Knochen, den er ihnen vorenthält. Die Tochter würde er wohl gern als Lockvogel ausnutzen, mißgönnt aber gehässig sein Kind den reichen Müßiggängern. Boschs Voyeurismus führt den Betrachter in konkrete Alttagsszenen ein, in Situationen, die nicht den Charakter des Abstrakt-Unwirklichen haben. Seine malerische Erzählimagination zeichnet sich vielmehr durch eine Typologisierung aus, die jeden Protagonisten zu einem Teil seiner Milieuschilderung werden läßt.
Anders ist hingegen die mediale Wirkung, die Magrittes Bild Der Falsche Spiegel (1928) in dem Kontext der Bedeutung der Allegorie des Sehens produziert.

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René Magritte, Le faux miroir, 1928. New York, Museum of Modern Art (MoMA). Oil on canvas, 21 1/4 x 31 7/8 (54 x 80.9 cm.) DIGITAL IMAGE © 2007, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Firenze

Hier ist das anatomische Auge als Kaleidoskop und Symbol für die aseptische Welt, die durch einen bewölkten Himmel, in dessen Mitte es eine schwarze Sonne gibt – die Pupille –, dargestellt. Es ist eine beängstigende Welt ohne Leben bzw. Menschen. Es ist nur die künstliche abstrakte Reproduktion des mechanischen Starrens eines imaginierten Auges.
Sowohl bei Bosch als auch bei Jelinek wird das Neid-Motiv durch die Technik der figurativen Gegenüberstellung der Augenblicke gezeigt, während Magrittes Bild Jelineks sprachlicher und figurativer Instrumentalisierung des menschlichen Körpers entspricht. Das in Boschs Neid-Szene gemalte menschliche Augenspiel, das den reichen Edelmann mit dem Falken dem armen Lastenträger und den neidisch auf den Edelmann schielenden Bürgern gegenüberstellt, stimmt mit Jelineks künstlichem frechen Wunsch nach einem Eindringen in Brigittes Leben überein. Das wird mit Hilfe eines indiskreten Teleobjektivs verwirklicht. (Neid 1,42) Man könnte sagen, daß all dies keine besonderen neuen Elemente in Jelineks Produktion mit sich bringt, denn es geht hier nur um die Verstärkung und Konsolidierung der schon bekannten collageartigen Schreibtechnik Jelineks, die auf der Interaktion zwischen Malerei, Medien und Literatur gründet. Boschs, Orwells und Dantes Textbezüge, die in Jelineks Werk auch zu finden sind, rekonstruieren auf verschiedenen Ebenen die traditionelle und moderne Bedeutung des Neid-Motivs. Wenn Boschs und Dantes Werke das Neid-Motiv in Bezug auf den zeitlichen Kontext des Autors deutlich und direkt fokussieren, weisen Orwells und Jelineks Texte indirekt und allegorisch d.h. durch das Sehen auf ihn hin. Die Schriften „cave, cave, Dominus videt“ (Bosch) und „Big Brother is watching you“ (Orwell) finden in Dantes Purgatorio XIII, 67-72 ihre deskriptive Entsprechung. „E come alli orbi non approda il sole,/così all’ombra quivi, ond’io parlo ora,/luce del ciel di sè largir non vole;/ch’a tutti un fil di ferro i cigli fora/ e cuce sì, come a sparvier selvaggio/si fa però che questo non dimora.“ Dantes o.g. Darstellung der Neider, die in der Dunkelheit der Zwischenwelt tappen und deren Augenlieder mit einem Eisendraht genäht sind, symbolisiert nicht nur die Widervergeltungsstrafe dieser Sünder, sondern zeigt sie auch als Paradox und Prämisse für Orwells o.g. Zitat. So wie Dantes Opfer das Augenlicht genommen wurde, weil sie es im Leben mißbraucht hatten, wird Orwells Hauptgestalt, Winston Smith, pausenlos in der Öffentlichkeit und im Privaten beobachtet. Boschs „Auge Gottes“ und Orwells „Big Brother“ sind zwei deutlich unterschiedliche Hinweise auf moralisch-religiöse bzw. politische Machtausübung, die durch eine visuelle Kontrolle – die Kraft des Sehens – ausgeübt wird. „Any sound that Winston made, above the level of a very low whisper, would be picked up by it; moreover so long as he remained within the field of vision which the metal plaque commanded, he could be seen as well as heard. There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, The Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. […] You had to live in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized.“ (Nineteen Eighty-Four, S.38) Diese Botschaft findet man nicht nur auf einer ähnlichen Erzählebene in Elfriede Jelineks Neid„Doch es gibt keine Kontrolle der Kontrolle, es gibt nur Gott, also ich glaube nicht, daß es ihn gibt, er hätte das Vergnügen der Mächtigen, alle Mächtigen, des Allmächtigen, Gott, der zumindest versucht, uns zu kontrollieren und alles zu untersagen […]“ (Neid, 1,52) – sondern auch in ihrer gesamten Kunst und in ihrem privaten Bereich. Die Autorin pointiert am Ende des zweiten Kapitels ihres Fortsetzungs-Romans, wie das Konzept des Neides für sie mit ihrer persönlichen psychologischen und pathologischen Unfähigkeit, anderen ins Gesicht zu sehen oder sich mit ihnen in Kontakt zu setzen, übereinstimmt. „O wie ich die Lebenden beneide, so, jetzt ist es raus, dafür das Ganze, ich beneide die Lebenden! O wäre ich wie sie […] Ach, wäre ich doch eine von ihnen! Ich bin es nicht.“ (Neid 2,14) Jelineks Bewunderung der Beneideten als Spiegelung einer Menschheit ohne Ängste und innere Grenzen gründet auf der Überzeugung, daß so eine Natur zu haben nur durch die Aufdringlichkeit eines respektlosen und skrupellosen Augenblickes möglich ist. Das aber verstößt gegen Jelineks Privatsphäre als Mensch der Einsamkeit und des Gespenstischen und unterstreicht die widersprüchliche Dichotomie zwischen innen und außen, alt und neu, Tradition und Moderne, Leben und Tod. Die Autorin bezeichnet sich in ihrem FAZ-Interview vom 17.04.2007 als „lebende Tote“, die „nicht leben kann, nicht reisen kann, Menschen nicht ertragen kann.“ Dieses Gefühl des Sterbens im Leben und des Erstickens in einem „Wurmloch“ (Neid 1,15) war auch schon Motiv ihres Theaterstücks Krankheit oder moderne Frauen, in dem weibliche Figuren wie Vampirinnen dargestellt werden. Neidisch sein bedeutet für die österreichische Autorin kein materielles Streben nach Reichtum oder Ruhm wie dies in der christlichen Botschaft der Fall ist, sondern eine innere Eigenschaft zum Gewinn der eigenen Identität, die nicht mehr wie in ihren früheren Prosa- und Theatertexten geschlechtsspezifisch konnotiert ist. Jetzt ist die Phase der Selbstbestimmung „gendered“ geworden. Jelinek zeigt uns also den Anfang eines neuen Selbstbestimmungsprozesses, in dem man sein Ich nur als geschlechtsunkodierter Mensch auf der Basis der hybriden bzw. widersprüchlichen Natur einer modernen Gesellschaft, in der alles vom Prinzip „sehen/nicht sehen“ kontrolliert wird, formieren kann. Die Machtausübung des Sehens konkretisiert sich durch eine zentrale Rolle des Autors als Nachahmer Gottes. „Du Tarzan, ich Gott, ich benütze diesen teuren Namen, der der billigste überhaupt ist […] ich beschreibe Gott mit mir, könnte aber jeden andren auch nehmen und so benennen […]“ (Neid 1,55). Die fast christliche Identifizierung Jelineks mit Gott als Schöpferin des schriftlichen Wortes, die deutlich an das Evangelium des Johannes – „Im Anfang war das Wort, und das Wort bei Gott, und Gott war das Wort“ – erinnert, entspricht sowohl dem traditionellen Konzept des Künstlers als Bild des Weltschöpfers als auch der labilen modernen, medialen Immanenz bzw. Existenz der Autorin durch ihren im Internet publizierten Text. „[…] Sie werden nur einen Fingerabdruck abgeben, das Ix, das Kreuzerl dort oben rechts erwischen, und schon bin ich weg, ich bin weg, verschwunden, und mit mir mein Textkörper, durch den ich leben muß und er durch mich […]“. Der Text als Körper, als lebendige Substanz, als Ich, das mit und durch seinen Verfasser leben kann, war schon ein bekanntes Leitmotiv in Jelineks Kunstkonzept (vgl. Sinn egal. Körper zwecklos). Es erfährt aber in Neid eine besondere Bedeutungsänderung, da die Körperlichkeit des Textes nicht mehr in ihrer Allgemeinheit, sondern nur in ihrer Spezifität – dem Sehen –, als Teil des Ganzen betrachtet wird. Am Leben bleiben bedeutet bei Jelinek „sehen“ können, und „sehen“ können stimmt mit der Aktion des Schreibens überein. In diesem Zusammenhang hat die Autorin ihre voyeuristische Position, die man schon durch die Figur der Klavierspielerin erfahren hat, erneuert. Es geht nicht mehr um eine sexuelle Neigung zum unbeobachteten Beobachten, sondern um ein inneres Bedürfnis nach narzißtischer Selbstbetrachtung, die nur durch einen Prozeß des im anderen Widerspiegelns möglich ist. Elfriede Jelinek behauptet nicht zufällig, daß sie in Brigitte K. ihre Doppelgängerin gefunden hat, auch wenn diese Ähnlichkeit einen tiefen Unterschied in sich birgt. „[…] ich bin und bleibe eine, ein Stück Mensch, ganz ähnlich wie Brigitte K., aber doch irgendwie anders. Genau deswegen wählte ich sie aus. Weil ich anders bin, aber irgendwie ähnlich.“ (Neid, 1,17) Jelinek fokussiert hier ihre menschliche Zugehörigkeit zur weiblichen Dimension von Brigittes Alleinsein als betrogener Frau – „Brigitte ist seither immer allein geblieben, einsam, nicht zweisam“ (Neid 1,48) – und unterstreicht ihre erreichte Fähigkeit, sich dem modernen Entfremdungszustand des Alltags schweigend anzupassen. Brigittes Anpassungskraft stammt aus ihrer Fähigkeit, ihr „gendered“ Sehenspotential verstärkt zu erleben. Die visuelle Annerkennung, die Natur der Menschen sei in der Öffentlichkeit nicht mehr geschlechtsspezifisch, sondern „gendered“ markiert, führt die Autorin zu der Schlußbemerkung, daß Mann und Frau als Objekte einer noch traditionellen dichotomischen Natur nur im Privaten unterschiedlich sind.
Ich möchte meine Argumentation mit einem Zitat aus Jelineks Neid – „Ich kann das beweisen wie ein Bild, das an der Wand hängt und zeigt“ (Neid 2,24) – schließen. Die Autorin beweist hier in Kürze, daß das Leben der Menschen fast wie ein gemaltes Bild ist. Boschs und Magrittes Kunstwerke haben das künstlerisch konkretisiert.

17. Juni 2007

Ester Saletta ist derzeit Mitarbeiterin der Rechstwissenschaftlichen Fakultät der Uni Bergamo für den Bereich „Equal Opportunities: Gender-Studies in Law & Literature“.