Christine Gaigg: Bis man sich „fast anspeibt“ (Gespräch)

Auszüge aus einem Gespräch, das Judith Helmer und Martina Ruhsam mit Christine Gaigg führten: über ihre Arbeitsweise, Elfriede Jelinek und den Körper als Symbol.

Warum ich die Einladung zu inszenieren angenommen habe? Weil Über Tiere ein beeindruckender Text ist. Wie Elfriede Jelinek einen Sprachfluss und geradezu Sog durch differente Wiederholungen generiert, da sehe ich eine Affinität zu meiner Technik, Bewegungsmodule mit geringen Veränderungen so aneinanderzureihen, dass ein gleichzeitig hypnotischer und analytischer Effekt eintritt. Insofern sehe ich in diesem Projekt eine Kontinuität meiner Arbeit der letzten Jahre. Das ist der formale Aspekt. Außerdem besteht ein inhaltlicher Bezug zu einem Stück, das ich 1998 im dietheater Wien herausgebracht habe: Rough Trades, für das der Ausgangspunkt die wahre Geschichte eines Linzer Prostituiertenmordes war. Damals interessierte mich vor allem die strukturelle Verflechtung von Polizei, Prostitution, Geldwäsche und Justiz. Der Text von Elfriede Jelinek ist aber viel weniger abstrakt, sondern eine unmittelbare und sehr körperliche Abarbeitung.
Über Tiere besteht aus zwei Teilen, die einander bedingen. Der erste Teil kann als eine innerliche Ansprache der Hingabe an einen abwesenden Geliebten gelesen werden. Im zweiten Teil wird explizit vorgeführt, anhand der montierten Telefonfloskeln von MädchenhändlerInnen, Kunden und Vermittlern, welche Auswirkungen in einer kapitalistischen, mit menschenfeindlichen Immigrationsgesetzen eingefriedeten Gesellschaft das Geschäft mit Sexualität haben kann. Sexualität wäre ja eigentlich gratis und außerhalb der Warengesellschaft angesiedelt. Wenn Sexualität aber Teil des Konsumsystems wird, sind Freiheitsberaubung und Ausbeutung ebenso an der Tagesordnung wie bei der Herstellung von Sportschuhen in weit entfernten Ländern. Nur dass es eben nicht Sportschuhe sind, sondern Menschen, ihre Menschenwürde und ihre Körper. Der Körper ist also das Symbol dessen, was den Mädchen am nächsten ist und am wenigsten selbst gehört. Wie es im Justizurteil heißt: Diese Mädchen sind ihrer sexuellen Disposition beraubt. Sie haben nicht mehr die Wahlmöglichkeiten, die im ersten Teil des Textes durchscheinen.
Jelinek nimmt das dokumentarische Floskelmaterial der Telefonprotokolle ja nur zum Anlass, um über die verhandelten Themen Liebe, Nähe, Sexualität die Frage zu stellen: Wer sind wir? Wo ziehen wir die Grenze zwischen Tier und Mensch? In Ulrike Maria Stuart, dem vor Über Tiere letzten Dramentext von Elfriede Jelinek, wird die RAF-Parole „Schwein oder Mensch“ ausgegeben. Die in Über Tiere vorgeführten Protokollabschriften hätten das Potential, eine solch naiv implizierte Hierarchie des guten über den schlechten Menschen festzustellen, mit einer Tiermetapher zu versehen und sich moralisch überlegen zu fühlen. Genau das macht einem der Text aber madig. Immer schneller werdend, steigert sich die konkrete Benennung von Körperlichkeit, Körperteilen und körperlichen Vorgängen, bis man sich – Zitat – „fast anspeibt“. Bis zur Kehrtwende, wo sich traumatisch die Ablösung von jeglichem körperlichen Empfinden vollziehen muss. Dieser Wucht des beschriebenen Exzesses muss man etwas von annähernder Intensität entgegensetzen. Es könnte knallharte Illustration sein, warum nicht. Ich beschränke mich darauf, die Jelineksche Sprachflut zu orchestrieren, um so die Vorgänge zu unterminieren.

Textwiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Theaters am Neumarkt, 27.6.2007