Monika Szczepaniak: „Ich rede und rede.“

Tagungsbericht

Unter dem Titel „Ich rede und rede.“ Elfriede Jelineks theatralische Masken fand am 20. und 21. Oktober 2007 in Bydgoszcz (Polen) ein vom Teatr Polski Bydgoszcz, dem Lehrstuhl für Germanistik der Universität Bydgoszcz und dem österreichischen kulturforum warschau organisiertes Symposium zu Elfriede Jelinek statt. Es war dem Gastspiel des Thalia Theater Hamburg mit Elfriede Jelineks Stück Ulrike Maria Stuart (Regie: Nicolas Stemann) vorangestellt und wurde von der szenischen Lesung des Textes Über Tiere und der Projektion von Fragmenten der Inszenierung von Ein Sportstück begleitet.
Polnische, deutsche und österreichische Literatur-, Kultur- und SprachwissenschaftlerInnen referierten über Jelineks Dramen bzw. „Texte für das Theater“, über ihre spezifische Theaterästhetik, die eine Herausforderung für Regisseure und Schauspieler darstellt und neuer Interpretationsmethoden und Inszenierungspraktiken bedarf, nicht zuletzt über Rezeptions- und Übersetzungsfragen. Die Besonderheit der literarischen Strategie von Elfriede Jelinek besteht in der permanenten Zerstörung der Phrase und der damit einhergehenden Montage von heterogenen Diskursen. Ihre „Texte für das Theater“ exponieren das Verfahren der Fiktionalisierung und Inszenierung einer fremden Rede – es geht um Sprechakte auf der Bühne. In Jelineks Theater gibt es keine lebendigen Helden – die Hauptrolle spielt die Sprache. Dieser Umstand wurde immer wieder reflektiert und in den Diskussionen betont.
Zum Gegenstand der Debatte wurde ein breites Spektrum von verschiedenen Aspekten der Jelinekschen Dramaturgie. Stefanie Kaplan (Elfriede Jelinek-Forschungszentrum Wien) ging in ihrem Referat „Machen Sie was Sie wollen.“ „Wolken.Heim.“ als Rohmaterial der Frage nach, wie Jelineks Text Wolken.Heim. in verschiedenen Inszenierungen am Theater sowie in Hörspielbearbeitungen und Kompositionen umgesetzt wurde. Darüber hinaus analysierte Kaplan die intertextuellen und intermedialen Vernetzungen rund um Wolken.Heim. innerhalb von Jelineks Werk. Sie kam zum Schluss, dass das Potential des Textes im Verzicht auf die dramatische Form liegt und durch den Einsatz von akustischen Medien exponiert wird. Deshalb scheint es angebracht, die auf Jelineks Ästhetik oft angewandte Analysekategorie Intertextualität durch Intermedialität zu ersetzen. André Barz (Universität Siegen) stellte in seinem Vortrag „…ein schlechtes Stück in einer miserablen Inszenierung“. Elfriede Jelinek, das Theater und die Kunst des Zuschauens die These auf, dass Jelineks oft im Rahmen des „postdramatischen Theaters“ situierte Texte „nicht ganz“ postdramatisch sind. Der Forscher ging davon aus, dass die Rezeption von Theater von bestimmten Wahrnehmungsvoraussetzungen geprägt ist und konstatierte, dass Jelineks Theater einen völlig veränderten Rezeptionsmodus impliziert (vgl. Stemanns Vorschlag, Jelineks Texte „mit dem Knie“ zu verstehen). Der Rezipient erwartet eine Botschaft und wird mit einer Attacke auf den Erwartungshorizont konfrontiert. Agnieszka Jezierska-Wiśniewska (Universität Warschau) stellte in ihrem Vortrag Richtung Antiroman und Antidrama – Elfriede Jelineks negatives Projekt? Jelineks Strategie der Zertrümmerung der traditionellen Gattungspoetiken bzw. ihre Auseinandersetzung mit der Gattungstheorie dar. Den Verzicht der dramatischen Merkmale illustrierte sie am Beispiel von Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, Krankheit oder moderne Frauen und Prinzessinnen-Dramen. Sie zeigte eine Entwicklung vom Dialog zur Dialogizität und zur formalen Angleichung der Theatertexte an literarische Prosa und konstatierte, dass Jelineks Theater immer mehr die Strategie einer Reizüberflutung bevorzugt. Einem weiteren wichtigen Aspekt der Dramaturgie von Elfriede Jelinek war der Vortrag von Peter Clar (Elfriede Jelinek-Forschungszentrum Wien) „Was bleibt ist fort“ Die Autorinnenfigur in Elfriede Jelineks Dramen gewidmet. Es ging um den Verkleidungshabitus in den Stücken, um das Verschwinden („Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg”) und die zunehmende Thematisierung der Autorin in späteren Stücken und Inszenierungen (Maske, Puppe, Perücke). Peter Clar hat in seiner Analyse gezeigt, dass die Autorinnenpräsenz durch den (scheinbaren) Versuch der Absenz gesteigert wird und umgekehrt: Die (fiktive) Autorin verschwindet in der übermäßigen Präsenz in ihren Werken bzw. deren Inszenierungen. Walter Maria Stojan (österreichisches kulturforum warschau) sprach über „Die Nestbeschmutzerin“ – das österreichische Schicksal. Er bezog sich auf den Artikel Iris Radischs Die Heilige der Schlachthöfe, der 2004 anlässlich der Zuerkennung des Nobelpreises für Literatur an Elfriede Jelinek in Die Zeit erscheinen ist. Von der Position des Autors aus setzte sich Stojan mit einigen Thesen Radischs auseinander (Kategorien Heimatliteratur, Anti- Heimatliteratur, provinziell, regional) und stellte den Mechanismus der negativen Rezeption heraus. Jelinek wird nicht verstanden, weil sie nicht verstanden werden will. Sie versucht vielmehr, „ihre Befindlichkeiten herauszuschreien“ und findet damit immer mehr Beachtung. Dialog zwischen Text und Theater wurde zum Gegenstand der Untersuchung von Anna Rutka (Katholische Universität Lublin). Strategien der Inszenierung im Angesicht der diskursiven Sprachmaterie auf der Bühne wurden am Beispiel der legendär gewordenen Inszenierung von Ein Sportstück durch Einar Schleef diskutiert. Anna Rutka präsentierte Schleefs originelle und autonome Art und Weise, in Dialog und Polemik mit Jelineks Text die Verbindung der Diskurse der ideologiezertrümmernden Sprache und des Körpers auf die Bühne zu bringen. Bożena Chołuj (Universität Warschau) stellte in ihrem Referat Körper im Einsatz in Elfriede Jelineks Stücken die Frage nach dem vermeintlich pornographischen Charakter der Jelinek-Texte. Die am Beispiel von Nora, Clara S. und Raststätte durchgeführte Untersuchung der Körperpräsenz ergab eine Diskrepanz zwischen der Körpersprache und der Artikulation und zeigte die extreme Künstlichkeit von Figuren als „Sprachflächen“. Jelinek zitiert Körperhaltungen und –bewegungen als würde sie Texte zitieren. Folgerichtig kann von pornographischen Elementen keine Rede sein.
Jacek Szczepaniak (Universität Bydgoszcz) nahm sich im Vortrag „Im Grunde bin ich eine unübersetzbare Autorin” zwei ins Polnische übersetzte Dramentexte Jelineks vor und verwies auf diverse Translationsprobleme, die sich nicht so sehr auf die systembedingten Unterschiede zwischen den beiden Sprachen zurückführen lassen, sondern eher im Bereich der translatorischen Kompetenz liegen. An zahlreichen Beispielen wurde aufgezeigt, dass die Neuübersetzung der Dramentexte Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte und Raststätte ein dringendes Desiderat seien. Der Vortrag von Elżbieta Łagocka (Universität Rzeszów) Elfriede Jelinek in Polen war verschiedenen Aspekten der Jelinek-Rezeption in Polen gewidmet. Die Forscherin dokumentierte alle in Polen übersetzten Jelinek-Texte und besprach die wenigen Inszenierungen bzw. Lesungen. Sie verwies auf einige charakteristische Reaktionen auf die Verleihung des Nobelpreises an Jelinek, die für sie das polnische Rezeptionsmuster illustrieren. Darüber hinaus suchte sie nach Ursachen für die Rezeptionsblockaden und die lange Abwesenheit der Elfriede Jelinek auf polnischen Bühnen.
Monika Szczepaniak (Universität Bydgoszcz) ging in ihrem Vortrag „Ich sehe Leichenberge.” Erinnerungsdiskurs in Elfriede Jelineks Dramen von Walter Benjamins Konzept des „Spatenstichs ins dunkle Erdreich“ sowie von Heiner Müllers Postulat des Theaters der „Totenbeschwörung“ aus und interpretierte Jelineks Theatertexte Wolken.Heim., Totenauberg, In den Alpen und Stecken, Stab und Stangl als Konstruktionen eines szenischen „Gegen-Gedächtnisses“. Jelinek Strategie, Untote auf die Bühne zu bringen bzw. das Unheimliche in die Sphäre des kollektiven Gedächtnisses zu implementieren wurde als ein Versuch gedeutet, die deutsch-österreichische Erinnerungskultur aktiv zu beeinflussen. Julia Freytag (Universität Hamburg) analysierte Nicolas Stemann Inszenierungen Das Werk (2003), Babel (2005) und Über Tiere (2007), in denen Jelineks literarische Strategien und die Möglichkeiten neuer Inszenierungspraktiken des „postdramatischen Theaters“ auf neue Weise produktiv gemacht werden. Schauspieler verkörpern keine Figur und spielen keine Rolle, sondern spielen Schauspieler, die versuchen, mit (zunächst unverständlichen Texten) umzugehen. Es sind Erwachsenen-Spiele (so der Titel des Vortrags), in denen wie in einem Kinderspiel das Theater selbst gespielt wird, wobei sich die Frage wer spricht? stellt.
Artur Pełka (Universität Łódź) besprach Nicolas Stemanns Inszenierung Ulrike Maria Stuart, ohne freilich den Text von Elfriede Jelinek zu kennen. Hervorgehoben wurden performative Aspekte der Inszenierung, die der Forscher am Beispiel verschiedener Gender-Aspekte (Konkurrenz von Frauen, weibliche Macht- und Liebesansprüche, politische und kulturelle Stellung der Frau, Rollentausch, Maskerade und Travestie) exemplifizierte. Insgesamt zeigte die Tagung, dass Elfriede Jelineks Rebellion gegen das traditionelle Theater bzw. ihr Anliegen, dem Theater das Leben auszutreiben, ein sehr produktives Potential birgt, das von den Regisseuren auf originelle Weise genutzt wird. Jelineks Komposition von Theatertexten bietet eine spezifische Möglichkeit, die Texte auf der Bühne zu sprechen und sie in origineller Weise in Szene zu setzen. In den einzelnen Vorträgen der Tagung wurden vor allem Fragen der Theaterästhetik und der Inszenierung aufgegriffen. Die Problematik der Dramen bzw. Theatertexte von Elfriede Jelinek wurde eher am Rande verhandelt. In den Diskussionen kamen mehrmals verschiedene Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Textuniversum und mit der medialen Welt, der komplexen intertextuellen bzw. intermedialen Theatertexturen und der „gestörten“ Rezeptionsgewohnheiten zur Sprache. Die Organisatoren der Tagung haben sich zum Ziel gesetzt, die in Polen weitgehend unbekannte Dramaturgie der Elfriede Jelinek zu präsentieren und praktische Bühnenarbeit mit einer theoretischen Reflexion zu verbinden. Unterstützt vom österreichischen kulturforum konnten das Teatr Polski Bydgoszcz und der Lehrstuhl für Germanistik der Universität Bydgoszcz ein gemeinsames Projekt realisieren, in dem Künstler und Wissenschaftler in gelungener Zusammenarbeit das Theater der Elfriede Jelinek ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellten und zu beleuchten versuchten. Die geplante Veröffentlichung des Tagungsbandes in polnischer Sprache wird als erste Buchpublikation zu Elfriede Jelinek die auf dem polnischen Buchmarkt klaffende Lücke füllen.

Monika Szczepaniak, Bydgoszcz, 10.12.2007