Bärbel Lücke: Brigitte und Elfriede

Wie man sich zum Gespenst macht und die Erzählkunst verquantelt oder wie man von sich selbst und zugleich vom Erzählen als Beobachten erzählt

(Ein Essay zum Kapitel fünf des Internet-Romans „Neid“ von Elfriede Jelinek)

Auf der Homepage von Elfriede Jelinek finde ich nach einer Zeit der Pause, in der nichts mehr zu kommen, der Neid-Roman also tatsächlich Fragment zu bleiben schien, wie die Autorin auch schon einmal als Möglichkeit angekündigt hatte, die ersten drei Teile des fünften Kapitels ihres Internetromans Neid. Privatroman. Dazu haben viele Leute viel gesagt, ich selbst auch, und man kann das ebenfalls im Netz nachlesen, fein säuberlich nach Kategorien aufgefächert und geordnet. Wissenschaftliche Untersuchungen sollten genau das aufweisen, eine kategoriale Ordnung, unter anderem. Aber ich habe erst gestern und heute die drei Teilkapitel gelesen (Fortsetzung folgt), und es drängt mich nicht, meine eigenen Aufzeichnungen zu den ersten drei Kapiteln des Romans anzuschauen (oder die anderer) und bei diesen Betrachtungen an die alten anzuknüpfen. Ich möchte gar nichts Wissenschaftliches schreiben, sondern nur meine Eindrücke anhand meiner Notizen festhalten (ich habe das Kapitel noch nicht ausgedruckt, sondern mit Schreibblock am Bildschirm gelesen), die dann ja immer noch einer späteren wissenschaftlichen Arbeit als Folie, Notiz, erste Sammlung oder was auch immer dienen können. Alles, was bisher gesagt wurde, hat ja in einem engeren Sinne den Charakter des Vorläufigen, den alle Analysearbeit auch in weiterem Sinne hat. Und auch dies hier ist doppelt vorläufig, weil der Roman selbst ja noch nicht zu Ende ist und es in einem bestimmten Sinne nie sein wird – anders als jeder zum Druck freigegebene Roman –, denn die Autorin behält sich ja vor, die „ab sofort“ eingefügten „aktuelle[n] Anekdoten des Zeitgeschehens“ (die diesen Privatroman nicht extra auszeichnen, sondern die, im Gegenteil, zum Werk dieser Autorin zu gehören scheinen; man denke zum Beispiel an Bambiland, wo Anekdoten – oder doch eher Anspielungen? – die (Zeit-Geschichte, das Kriegesgeschehen im Irak, noch schärfer konturieren und seine Unrechtmäßigkeit, die im allgemeinen Hype der medialen Berichterstattung und unter manipuliert-patriotischer Emotionalität nicht wahrgenommen zu werden droht, und den gesamten disneylandartigen Fake-Zeitgeist greller beleuchten und so sichtbarer machen) jederzeit wieder, wenn sie ihr nicht mehr behagen, durch andere zu ersetzen (40): Dem Einpersonen-Privat-Blog stehen angekündigte variable Beiträge ins Haus. Aber geht es um die? Würde ich den gesamten Roman daraufhin immer mal wieder untersuchen, ob sich neue zeitgenössische Anekdoten darin persifliert oder kommentiert – beobachtet – finden, ausgetauscht gegen die alten? Oder will hier eine Autorin, die nichts als die „Erzählkunst“ im Sinn hat, etwas Grundsätzliches über das Erzählen mitteilen? Was aber sollte das sein, da schon mehrfach festgestellt wurde, auch von der Autorin selbst – mehrfach -, dass sie keine „Handlungen“ beschreiben, also nicht erzählen möchte, dass sie keine „Dialoge“ schreiben, also nicht erzählen möchte? Und geht es in dem Roman nicht auch darum, dass die Autorin gerade mit ihren Kritikern abrechnet, die ihr immer schon, seit sie schreibt, aber in der letzten Zeit besonders – seit eben wieder das Erzählen lautstark verlangt („gewollt“, 6) wird, als sei es ein Heilmittel gegen die bedrohlich unverständlichen politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen, kulturellen Abläufe unserer Zeit, als biete es geradezu eine Flucht in die Geschlossenheit und Überschaubarkeit einer fiktiven Welt, die noch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, ein lineares Fortschreiten der Ereignisse zu einem Ende hin, also eine Teleologie, eine Zielgerichtetheit und damit einen Sinn – die Fähigkeit zu schreiben abgesprochen haben, sie beleidigt und gedemütigt haben: „Ich bin verachtet und verspottet, das macht meinen Blick zu einem Tunnel“ (9). Aber – Vorsicht, liebe Leser, möchte man rufen, bedenkt immer und fragt euch das: Wer spricht? Wenn schreiben heißt zu erzählen, dann hat sich Elfriede Jelinek in gewisser Weise immer schon verweigert zu erzählen, und zwar genau dann, wenn erzählen heißt, dass die fiktive Welt, die einen Anfang und ein Ende, also einen linearen Zeitverlauf und damit ein kausales Handlungsgefüge als Ursache- und Wirkungskette und Menschen mit einem „Schicksal“ und einem Charakter hat, letztlich ein Spiegelbild oder Abbild unserer Wirklichkeit ist. Eine solche Welt wäre dann eine kausale, teleologische und „geschaffene“ Wirklichkeit, die zugleich – es wurde oft gesagt – die letztlich vernünftige und deshalb von den Geschöpfen erkennbare Welt eines Weltenlenkers wäre, eines Gottes, der auch unsere Geschicke lenkt. Eine solche fiktive Welt wäre eine nachvollziehbare Welt, und deshalb erscheint uns auch ihr „bloß“ fiktiver Charakter verzeihlich. So muss man sich nicht klarmachen, dass ja die angebliche Wirklichkeit, die dieser Fiktion zugrunde liegt, die viel größere Fiktion wäre – ein als Wirklichkeit toleriertes Märchen von der Erkennbarkeit der kausalen Welt, eine gesellschaftlich verabredete große Erzählung der Befriedung der Menschen und Massen. Und die im Neid-Roman attackierten Kritiker wollen ja, dass diese gesellschaftliche Verabredung eingehalten wird, die auf dem Glauben an die Welt und der hinter ihr verborgenen (ja!, göttlichen) Wahrheit beruht. Diese Kritiker wollen eine Bibelstunde fürs Volk mit jedem Roman, der eben „erzählt“ sein muss (von Gott geschaffen)? Und wer sie nicht liefert, diese Bibelstunde, den liefern sie ans Messer? Obwohl sie wahrscheinlich von dieser Autorin, die sie ständig ans Messer liefern, wahrscheinlich wenig gelesen haben. Und so fragt dann auch die Autorin: „Ich hoffe, Sie haben „Lust“ gelesen, nein? Macht nichts, das ist auch von mir, aber es macht trotzdem nichts, es ist zum Kotzen, das es nichts macht“ (21). Ja, geht es nicht auch um Rache an genau diesen Kritikern in dem Romanprojekt Neid, um wenn auch noch so kunstvoll hermetisch gesicherte Abrechnung, wie im vierten Kapitel zum Beispiel? Und wenn nicht um Rache und Abrechnung (naja), dann eben um den selbsttherapeutischen Entwurf einer Autorin, die einmal sagen darf und sagen muss, wie sehr solche Kritiken verletzen und beleidigen, erniedrigen und demütigen? Ein Privatroman als private Psychotherapie? Das Volk, die Bürger, nein, die Leser – sie wollen sich nicht von liebgewordenen Denkgewohnheiten und noch weniger von ihren Überzeugungen, mühsam stabilisierten Urteilen und ebenso mühsam erworbenen Vorurteilen trennen, sondern die wollen sie endlos bestätigt bekommen in „gut erzählten“ Romanen, weil sie nun mal solche Leser sind und weil ihre Meinungen, die sie wiederfinden möchte, in ihren Augen die wahren sind, schon deshalb, weil sie von vielen vielen anderen mehr geteilt werden. Und für solche Leser kritisiert der Kritiker? Weil das, was mehrheitsfähig ist, nicht nur demokratisch ist, sondern auch wahr sein muss – Unrat ist schmackhaft, Millionen Fliegen können nicht irren? Das ist zwar nur einer von vielen Fehlschlüssen, aber was kümmert das die Kritiker? Oder uns Leser der wirklich noch erzählten Geschichten (denn das Erzählen ist bedroht, und es muss erhalten werden) und der wahren Geschichte (nicht Geschichten)? Ihre erlittenen Schmähungen verdeutlichte die Autorin bisher vielleicht auch quasi allegorisch an jener verlassenen, geschmähten Ehefrau, an Brigitte K., die in der sterbenden Stadt der vielen gemordeten Toten und gierig-globalen Lebenden ein bedrohtes Dasein fristet, reduziert auf das Geigenspiel wie die Autorin auf das Schreiben, reduziert auf die Existenz einer Lebend-Toten, die eben gerade deshalb nicht mehr existiert, so wenig wie die Autorin oder die Figur oder die Beobachterin und Selbstbeobachterin, die das ja auch im fünften Kapitel nicht müde wird von sich zu sagen: „Meinen Willen kenne ich bis heute nicht, da ich ja gar nicht existiere, davon bin ich fest überzeugt“ (68). Sie nennt sich eine „Unberührbare“ (71), aber das ist so doppelsinnig wie hinterrücks: Meint sie sich als die von den Kritikern Verachtete und den Lesern Verstoßene, wie es sie in Indien z.B. als Kaste gibt, oder steckt darin auch, dass man sie mit solchen Erwartungen („erzählen!“) und Schmähungen als Folge enttäuschter Erwartungen gar nicht berühren kann? Und wieso existiert sie nicht, die Brigitte K.? Etwa deshalb nicht, weil sie die „normale“ Existenz des Bürgers, die darin besteht, dass er seine „Tierheit“ ausleben darf, also „voll Tier sein darf“ (70), gerade nicht leben kann, so wenig wie die Autorin („wie bei uns“), die nur „im Denken“ existieren darf? Sie, Brigitte K., wird ja genauso „verachtet“ und „verlacht“ wie die Autorin in ihrer Existenz als verlassene Ehefrau, die ihr mühsames Geigenlehrerinnen-Dasein fristet – dabei geht es doch im Leben wie im Schreiben um nichts anderes als die „Seinsfrage“, um den „Seinsfaden“ (5), vielleicht auch um die heideggersche ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, um die „Seinsvergessenheit“ auf jeden Fall, und wenn man so ein ärmliches Dasein hat, vergisst man dieses Sein am besten? Hier aber geht es um die „Seinsvergessenheit“ (6) des jelinekschen Erzählens: An das Erzählen selbst wird die „Seinsfrage“ gestellt. Aber dazu gleich. Erst muss ich das noch sagen, was mir gerade einfällt: Gab es nicht in einem der Kapitel die Anekdote von Brigitte, die ihr Haus verlässt, gedankenverloren auf die Straße blickt und einen Zeitungsfetzen mit einem Gesicht sieht, auf das schon so viele Paare und Passanten getreten haben? Brigitte aber tritt nicht darauf, sie bückt sich und hebt das geschundene, achtlos getretene Stück Papier auf. Sollte dies ein leicht persifliertes, dennoch konventionelles Symbol des Spiels mit der multiplen (Nicht-)Existenz von Autorin und Figur sein? Das geschmähte alter ego hebt das Bild der Autorin auf (wem gehört denn das abgebildete Gesicht?), die ihre wahre Existenz in dieser bildhaften findet, die dort aufbewahrt ist und, vielfach getreten, dennoch liebevoll aufgehoben, bewahrt wird von denen, die sie „erkennen“? Nein. Die „Seinsvergessenheit“ von fiktiver, „realer“, real-fiktiver Figur soll hier nicht untersucht werden, na, untersucht schon gar nicht, nicht einmal angedacht – denn was fiele mir dazu schon ein. Ich kenne z.B. die Autorin, die sich in Teilaspekten (Teilchen) in den Text einarbeitet, so wenig wie die Geigenlehrerin, die als erfundene Figur ja auch rudimentär bleibt. Ich kann ihre Aussagen und Selbstaussagen nicht nachprüfen, zum Beispiel die, ob sie wirklich unter „Seinsverlassenheit“ (29) leidet und dass just die es war, die sie die totale Vernetzung (schöne neue Internet-Geborgenheit!) wünschen ließ. Ja, wollen wir denn überhaupt die totale Vernetzung? Nein, hier steht es ja: „Ich will trennen, nicht verbinden“ (35). Ich kann auch nicht nachprüfen, ob es stimmt, wenn sie sagt: „ich höre absichtlich nie Musik“ (71). Und da ich ihr Haus nicht kenne, weiß ich nicht, ob die Geige und die Bratsche unter dem Steinway liegen, und ich weiß nicht, ob dieser Flügel „rabenschwarz“ ist, „schwarz wie meine Trauer über mein nicht gelebtes Leben“ (69). Über das Leben der Autorin kann man ja viel erfahren, wenn man ihre Biographie liest, oder die Interview-Texte mit den Selbstaussagen oder die Filme anschaut oder die Videos. Ist dies also auch, unter anderem, neben der Biografie, nun die erste Autobiografie, die mir das Leben dieser Autorin in der Versuchsanordnung der Selbstbeobachtung bietet, einer Autorin, zu deren „Leben“ ich noch nie etwas gesagt (nur etwas bei anderen abgeschrieben), zu deren Werk ich aber gerade erst eine Einführung geschrieben habe? Wenn auch (in Addition) Autobiografie (und es ist ja ein öffentliches Faktum, das nun im fünften Kapitel des Privatromans eigens erwähnt wird, dass die Schriftstellerin Elfriede Jelinek aus der Deutschen Akademie der Künste ausgetreten ist, „weil diese reaktionäre Revolutionäre unterstützt“, 40), dann eher eine Stimmungs-Biografie? oder ein Seelenportrait?, wenn ich an die Seele glauben würde (also, ich meine nicht, dass ich die Autorin für „seelenlos“ halte, wie es so viele tun, weil sie die Nazi-Geschichte nicht ruhen lassen will, auch in diesem Roman nicht, denn sie setzt ihrem Onkel, der sich, ein Überlebender des Holocaust, selbst mit Gas vergiftete, ein Denkmal; weil sie nicht aufhören will, ihr Land anzuklagen und Deutschland sowieso). Ich wäre bereit, ihr gerade dafür die nobelste Seele zuzuschreiben, wenn ich denn an eine glauben würde. Na, man kann es ja auch ‚Haltung’ statt ‚Seele’ nennen, wie sie selbst es in Bezug auf Brigitte K. tut: „Für alles andere brauchen Sie keine Haltung, das fällt keinem auf, aber für die Geige brauchen Sie unbedingt eine“ (68). Vielleicht ist ‚Haltung’ ein wirklich gutes Synonym für ‚Seele’, ich weiß, dass man nicht genau definieren kann, was ein Synonym ist: Darauf, genau darauf nämlich baut Willard van Orman Quine seine Argumentation auf, dass die kantsche Unterscheidung von analytisch und synthetisch (bei Urteilen) nicht aufrecht zu erhalten sei. Um aber auf die „Seinsfrage“ des Erzählens endlich zurückzukommen, so wird die schon in der sarkastischen Schreibmanier der Autorin ziemlich zu Anfang des Kapitels erledigt: „Hiermit erkläre ich das Sein für bereits hergestellt“ (8) – was soviel heißen soll, dass, da es das Sein schon „gibt“, sie für dessen ontologischen Status nicht mehr Sorge tragen muss (ein heideggersches Existenzial, die Sorge, ist damit auch schon zerplatzt, könnte die Autorin hier hinzufügen. Ich weiß allerdings nicht, ob sie es täte)? Nein, halt, sie sorgt sich doch um das Sein, genauer gesagt, sie fühlt sich verantwortlich für dessen Entsorgung, denn als „denkende“ Bürgerin (und als missachtete Autorin – aber ist hier wirklich, möchte man fragen, die Rede von der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, der unerschrockenen politischen Kämpferin, der engagierten Autorin, der, wenn auch in „Reklusion“ gegangenen, also nicht in „Exklusivität“ (41) lebenden, Freundin und Autorin, die über Elfriede Jelinek spricht?) hat sie das Sein zugleich mit sich selbst und ihrer „Mode“ in ein „Plastiksackl“ gesteckt, das unverkennbar ein Müllsack ist: „ich habe das Sein in praktischer Größe erschaffen, weil es doch in diesen Plastiksackl hineingehen soll“ (8), und: „ich seire nicht länger über das Sein herum“ (7). So, damit auch der letzte Zweifel getilgt ist, wird es noch einmal gesagt – vielleicht für die Philosophen unter den Lesern, die nicht an jener Amnesie leiden, die Heidegger die Seinsvergessenheit nennt (und die, laut Autorin, „verhaftet“ ist an das Sein und „von mir aus an die Seiendheit“), sondern die das Sein für ihr stabiles Weltgebäude als ‚unverzichtbar’ ansehen: Sie brauchen das PZG, das Prinzip des zureichenden Grundes, nicht nur für ihre Moralbegründung, sondern für die Grundlage ihrer gesamten Ontologie und Erkenntnistheorie –: „Und dieses Sein, das ich geschaffen habe, habe ich hiermit hier abgeschafft“ (8). Als ein stabiles Weltgebäude können wir nun diesen Roman nicht mehr ansehen (falls wir es jemals taten); eher vielleicht als ein Labyrinth (mit gefährlichem Minotaurus?), aber ohne Ariadne-Autorin mit „Seinsfaden“: Den hat sie ausdrücklich abgeschnitten, nein, sie hat ihn offenbar selbst verloren und vermutet, dass der Leser ihn nun suchen wird (20) –natürlich vergeblich. Sie bietet den desorientierten Lesern stattdessen ein besonderes „Garn“ an in ihrer „Seinsverlassenheit“. Dieses Garn gehört zur „Seinsverlassenschaft“ (nicht zur Seinshinterlassenschaft) der Autorin und ist ein „endlose[s] Garn, an dem ich hier ein wenig mitspinne“ (29) – Der Spinnerin Lied, haben wir hier etwa die gänzlich neue Version eines alten Textes, da an der Autorin schließlich immer die Musikalität ihrer Texte gerühmt wird und das Schreiben von Literatur aus Literatur? Oder webt und spinnt Arachne-Autorin bloß am Schicksalsfaden ihrer Figuren? Das scheint der Fall zu sein (oh Wittgenstein!), denn diese Dichterin hier folgt nicht der deontischen Logik, die sie selbst persifliert, nämlich dass ein Dichter „so eingebildet“ sein sollte, „daß sein denkerischer Wille schon genügt, um etwas herzustellen und dabei das Entscheidende zu übersehen“, was allerdings „egal“ ist, „denn das Sein ist das Fragwürdigste“ (29). Sie verkündet nämlich gleich, dass ihr zum Beispiel ihre Figur, diese Brigitte K., „abhandengekommen“ (4) sei; sie habe vermutlich so viel „an ihr herum radiert“, dass nun nur noch „leere Stellen“ da sind. Jelinek betont hier ironisch nicht nur die techne, die radikale Kunsthandwerklichkeit, die Gemachtheit ihrer Figuren, die einer referenzillusionistischen Lesart entgegenstehen (was sie auf die eine oder andere Art immer schon tat, man denke an die lockvögel, die Liebhaberinnen und andere Werke). Ich glaube, dass Elfriede Jelinek jeder Seinsfrage – und damit jeder Frage nach dem vorzugebenden oder bereits vorgegebenen Sinn – den Garaus macht, weil sie so radikal wie kaum jemand das stabile Universum des Erzählens auflöst, weil es unserem Weltbild, unseren physikalischen Erkenntnissen und dem poststrukturalistischen Denken einfach nicht mehr standhält – die Erde ist keine Scheibe mehr, der Weltlauf nicht unbedingt linear-teleologisch. Die Wahrheit über die Welt ist auch keine geschlossene Subjekt-Objekt-Opposition (79) mehr (wusste ja auch schon Heidegger). Die Wahrheit auch der fiktiven Welt ist nicht linear-teleologisch, weil das kosmische wie das Satz-Universum abhängig vom Beobachter sind, wir wissen es seit der Quantentheorie. Und seit der Relativitätstheorie wissen wir auch, dass die Masse eine Form der Energie ist. Wirklichkeit ist also subjektiv-energetisch; sie ist eine von meiner Versuchsanordnung des Beobachtens abhängige Weltwirklichkeit, und ich beobachte mal Teilchen (Masse, Korpuskeln), wenn ich das Licht betrachte (die Welt in einem bestimmten Licht betrachte) und mal Wellen, wenn ich die Energie „verflüssigen“ will. Die Autorin wäre also der Nullpunkt, von dem aus das Satzuniversum subjektiv geschaffen wird (wir sind alle Künstler [Beuys], Welthersteller [Goodman], weil wir alle unsere eigene Wirklichkeit qua Wahrnehmung, Beobachtung, erzeugen, auch die Wirklichkeit des Textes). Wenn man bei der grundsätzlichen Ontologie dieser Nullpunkt-Autorin ansetzt, nämlich bei ihrer humeschen Position, dann ist das Sein schon im Denken abgeschafft, und sie errichtet eine humesche, eine seinsfreie literarische Welt. Wenn man von der Quantentheorie aus denkt, ist ihr Schreiben das Erzeugen einer literarischen Quanten-Welt, und sie besteht ebenso aus lauter Quarks und Elementarteilchen, lauter Wellen und erzählerischen Korpuskeln. Die grundsätzliche Ontologie macht sie, die Beobachterin („mir folgsamer Beobachterin, die immer alles glaubt, was sie sieht“, 34) ja am Anfang des Kapitels noch einmal klar, und zwar mit ihren wunderbaren alltäglich-praktischen Metaphern, die von der Müllentsorgung bis zu den Verkehrsregeln reichen (hier geht es um Überholen und Vorrang) oder umgekehrt: „Das Wirkliche, das Seiende selbst, wird also in den Vorrang gebracht“ (7). Bevor wir die „Quantenwelt des Erzählens“ noch ein bisschen genauer untersuchen, muss das Dilemma des Erzählens aber ausdrücklich betont werden, sein Dilemma und sein unauflösbares Paradox. Denn das Schreiben ist linear (28), ganz egal, was jemand schreibt. Man reiht immer Begriffe aneinander (man lese dazu Vilém Flussers Kommunikologie), die zusammen einen Sinn ergeben, der erst am Schluss des Geschriebenen erkennbar wird. Und hier sind die Stolpersteine auf dem linearen Weg für das „Quantenerzählen“, nämlich Reihung, Sinn, Ende: Das Schreiben ist schon deshalb, weil es auf einen Endsinn (nicht Endsieg!) hinausläuft, teleologisch. Und Teleologie meint auch Fortschritt, denn ich schreite ja buchstäblich fort, auf mein Endziel, auf den Sinn, hin, den ich erfassen, erkennen, erfahren möchte. Kein Schreibender kommt um diese Linearität herum, auch Elfriede Jelineks „Quantentext“ nicht. Was also tun, wenn ich schreiben muss in einer Welt, die anders erfahren (mit ihren Metaphern er-„fahren“) wird, natürlich nicht unbedingt im gelebten Alltag, aber in der Physik, die die Welt erklären muss und in der Literatur, die das auch muss? Ich schreibe notwendig linear, unterlaufe aber diese Linearität zugleich, um die neue Welt erfahren zu können? Elfriede Jelinek „fährt“ auch, um sich und die Welt erzählerisch zu erfahren, und nun ist sie „einfach ausgeschert“, sie hat z.B. ihre Figur, die sie nun nicht einmal mehr „im Rückspiegel“ sieht, literarisch „illegal“ (ja, die Kritiker in ihren „Regelmänteln“) „überholt“. Nein: „Überholen ginge ja sowieso nicht. Kein Platz für den Fortschritt“ (6). Also, hier haben wir sowohl das Dilemma als auch das Paradox. Aber „Paradox“ ist ein so schönes Wort: Man „fährt“ gegen (para) die allgemeine Meinung (doxa), gegen die Vorurteile, gegen, wie die „Sprechende Figur“, die Protagonistin, nein, die Beobachterin, sagt, gegen das „zeitgenössische Gerede“ (4) an – über „Bäris Hilton“ zum Beispiel – man „fährt“, spricht, redet, schreibt gegen dieses allgemeine Gerede (das heideggersche Man) an. Ach, vielleicht ist das Erzählen bei dieser Autorin schon deshalb so in Misskredit geraten (es würde ja auch genügen), weil ja jeder im TV z. B. – auch der Tsunami-„Klausi“ – so schön erzählen kann: „er könnte meinen Beruf ausüben, wie jeden andren auch und wie jeder andre auch“, denn „er beschreibt es ja so gut“ (35). Ja, tja. Wie aber vermeide ich, mal abgesehen von der Ästhetik, der Schönheit des Erzählens und Beschreibens, wenn ich ja linear erzählen muss, die Teleologie, den Fortschritt, den (einen, eindeutigen) Sinn? Indem ich dem Seienden den „Vorrang“ gebe? Indem ich, als „Sprechende Figur“ im Roman, „allein mit meiner Persönlichkeit“ zeige, „wie die Zeit vergeht“? Zeit und Erzählung – ein vielbeachtetes Werk von Paul Ricoeur, und wenn ich mich recht erinnere eines, in dem er, Ricoeur, Heidegger einfach vom Kopf auf die Füße stellt, damit man dem „Sein zum Tode“, dieser (letztlich doch?) sinnlosen Endlichkeit, entkommen kann. Ein Werk über Jelinek mit dieser speziellen Problematik müsste heißen: Zeit und Quantenerzählung, und die Zeit ist ja auch das „Wurmloch“ zum Beispiel, in das Jelinek auch im fünften Kapitel ihren Zeit-Erzähl-Wurm kriechen lässt, nämlich zurück in die geschichtliche Zeit des Nationalsozialismus, in der mehr als der Wurm drin war (Herr Heim und Herr Brunner, 46, der „Ustascha-Polizeichef Asner“, die „KZ-Wächterin in Majdanek, Frau Wallisch“, 54). Noch einmal. Vom Nullpunkt aus. Vom Nullpunkt des Beobachtens aus (denn von Erzählen kann man in diesem physikalisch-politischen Labor nicht mehr sprechen, so wenig wie von Handlung oder Charakter oder Erzähler oder Schönheit) erscheint die Welt als Teilchenwirrwarr – lauter verfestigte Energie, und das Satzuniversum ist entsprechend kein lineares mehr, das fortschreitende Handlung nach dem Kausalprinzip entfaltete. Die Satzteilchen schwirren manchmal auch, und Satzwellen wogen auf und ab, bäumen sich gleichsam auf, schäumen auf und fallen wieder ab. Endlosigkeit, Beginnlosigkeit (manchmal jedenfalls, da weiß die Autorin, die Beobachterin, nicht mehr, wo, wann, wie ihr Satz begonnen hat) – es ist das ach, so kunstvoll errichtete Quanten-Universum der Satz-Wellen und Satz-Teilchen: „Sie können sich ja beim Satzamt beschweren, daß der Satz keinen Anfang und kein Ende hat“ (77). Da verfestigt sich die Schreib-Energie manchmal zu ziemlich klumpigen Elementar-Teilchen, die eigentlich schon keine Teilchen mehr, sondern handfeste Teile (Masse) sind, denn sie sind auf jeden Fall Bestandteile unserer global-kapitalistischen Gesellschaft des globalen Kapitals und der globalen Medien, die jedem Mächtigen (und oft auch der Sprache Unmächtigen) den vollen Bildschirm und allen gesellschaftlichen Schutz für ihre Machenschaften geben. Die Beobachterin hat hier den oben schon erwähnten „Klausi“ aufs Korn genommen (ich muss noch recherchieren, wer das ist, bis jetzt habe ich ihn im riesigen weltweiten Netz nicht gefunden, aber er muss da irgendwo zappeln, nein, wieder falsch, er ist ja erfunden), einer von den „Mächtigen, die sich über die Natur hinwegsetzen“ (22), Klausi, der sein Notebook mit all den wichtigen Telefonnummern vor dem Tsunami rettete, damals in Khao Lak, im schönen Thailand, und der das Notebook hielt, aber nicht den Sohn, der nur noch „kotzte“. Ach ja, das war ja als Novelle angekündigt (oder sollte das gesamte fünfte Kapitel eine Novelle sein? Ich muss noch mal nachschauen) und sogleich widerrufen worden. Na, eine neue und eine goethesche unerhörte Begebenheit ist das ja auch alles nicht, was da beobachtet, aber eben nicht erzählt, sondern zu Teilchen verklumpt wird (keine eleganten Wellen bei „Klausi“): Zum einen war es schon im Jahre 2004 (der Tsunami), und die vielen Kindtötungen der deutschen oder österreichischen Rabenmütter liegen auch schon länger zurück, ganz zu schweigen vom Holocaust. Zum anderen ist das, was da beobachtet und aufgeschrieben wurde, ja auch keineswegs „unerhört“, denn diese Begebenheiten sind so alltäglich wie die Metaphern der Autorin, man liest und hört und erfährt von ihnen jeden Tag, man hört ja kaum noch hin. Stattdessen hört man lieber in das „Telefony“ (28), das Handy und alle niedlich y-End-Geräte (happy-Geräte?). Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb das alles, was da beobachtet wird, keine Novelle wird: „[E]ine Novelle verbietet sich schon angesichts der Haarbüschel, die von den Häuptern der Toten wegstehen, egal wo“ (33). Deshalb sagt die Beobachterin: „ich habe der Wahrheit die Stelle meiner Novelle jetzt abgetreten, die ihrerseits nach mir tritt, weil ich sie arbeitslos gemacht habe“ (33) – der Tod ist die ultimative Wahrheit, das sagt er ungefähr selbst, höchstpersönlich in einem der Prinzessinnendramen, wo er auch mal eine Rolle spielen darf (im „Leben“ darf er das ja nicht, na, es geht ja auch um den Tod). Ja, die Teilchen springen, und es gibt keinen sanften ordentlichen Wechsel mehr, sondern einen diskontinuierlichen Sprung, den Quantensprung halt. Elfriede Jelinek beobachtet die thematischen, erzählerischen Quantensprünge und auch die „im Leben“ und schreibt sie auf, und dann ist ein Teilchen in einem Nukleus, und im nächsten Augenblick ist es fort, ohne Übergang. Und ich? Wo bleibe ich, die Leserin? Das habe ich doch so geliebt an Elfriede Jelinek, dass sie eine Dichterin der Übergänge war, und zwar zwischen den metaphysisch-festen Substanzen zweier Pole, z.B. Gut und Böse oder Geist und Körper. Sie hat sie, diese Substanzen, immer miteinander so verschränkt, dass sie nur eine Substanz waren, die in sich selbst gespalten zu sein schien, eine Substanz der fließenden Übergänge. Jetzt haben wir nur noch Energie, und die besteht in übergangslosen „subatomaren“ (Satz-) Phänomenen (kann man das noch Phänomen nennen, frage ich mich) aus Wellen und – Teilchen. Übergangslos, weil ich meine Versuchsanordnung ja ändern muss. Hoffentlich ist das richtig formuliert. Nein, die Teilchen springen ja übergangslos. Aber von Brigitte zu Elfriede gibt es doch noch einen Übergang, jawohl, sogar eine Verbindung, denn Brigitte ist eine Geigenlehrerin, und die Dichterin war eine Geigenspielerin, und da Brigitte eine Geigenlehrerin ist, und die Elfriede, die Dichterin, oft genug auf ihre Geige neue Saiten aufzieht und uns nun auch noch die Erzählung vergeigt, ist dieses Gespann ganz sinnfällig: „Frau [Geigen]Lehrerin, Frau Dichterin als Lehrerin“ (52). Und doch zum Schluss die Frage, die paradoxerweise wieder die Linearität beschwört: Wie wird die Beobachterin, die Quantenexperimentatorin, die Dichterin in ihrem Kapitel, dem fünften von Neid, fort“fahren“?

7. März 2008

Bärbel Lücke ist Literaturwissenschaftlerin und lebt in Stade bei Hamburg.

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