Literaturverfilmungen gibt es seit jeher, jedoch hat sich die Theorie und Ansicht darüber wie Literatur verfilmt werden kann im Laufe der Zeit differenziert. Es gilt beispielsweise zu unterscheiden zwischen einer werktreuen Verfilmung und einer Verfilmung der Literatur, die weitaus freier und sicherlich auf einer anderen Ebene stattfinden kann (diesbezüglich lassen sich die Möglichkeiten in zahlreiche Kategorien auffächern; Bsp.: Vier Adaptionsformen von Wolfgang Gast).
Die Klavierspielerin von Michael Haneke aus dem Jahre 2001 ist sicherlich eine relativ werktreue Verfilmung der literarischen Vorlage. Den Aspekt der Begrifflichkeit Literaturverfilmung möchte ich jedoch aufgrund der Tatsache etwas ausblenden, da er in meinen Augen veraltet ist. Ich möchte lieber vergleichend vorgehen und betrachten inwieweit in den beiden sehr unterschiedlichen Medien operiert wird und somit vielleicht ein Indiz dafür liefern, dass die leidige Diskussion um eine zufrieden stellende Verfilmung einer Literaturvorlage völlig irrelevant ist; es also Not tut, Film und Buch bzw. Buch und Film viel differenzierter zu beobachten wie es allgemein üblich ist.
Meine Betrachtung soll sich ausschließlich auf den Beginn des Filmes sowie den Beginn des Buches beziehen. Meine Arbeitsfrage dreht sich also darum, wie ein Film bzw. Buch in einer Geschichte bzw. Handlung einzuführen vermag; wie bei diesem Beispiel unterschiedlich vorgegangen bzw. mit gemeinsamen Ansätzen gearbeitet wird:
Beginn des Romans: (Zitat)
„Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt.“
Beginn des Films: (Beschreibung)
Die erste Kameraeinstellung des Films lässt den Zuschauer auf eine Wohnungstür blicken. Man hört wie ein Schlüssel in das Schlüsselloch gesteckt und umgedreht wird. Die Tür geht auf. Das Quietschen der Tür ist zu hören. Eine weibliche Person tritt ein und verriegelt die Tür. Bis dahin bewegt sich die Kamera nicht und es gibt auch keinen Schnitt. Man hört ein Geräusch, einen Dialog im Hintergrund, welches sich leicht mit dem einer Fernsehserie oder ähnlichem assoziieren lässt (diese Tatsache nehmen wir für weitere Betrachtungen einfach an).
Betrachtet man nun den Anfang des jeweiligen Mediums und vergleicht diesen mit dem Anderen fällt auf, dass wir sozusagen durch die erste Kameraeinstellung des Films andere Informationen bekommen als beim Buch. Im Film weiß man nicht wie diese Frau heißt, die in die Wohnung tritt und erfährt auch nicht, dass sie diese Wohnung mit ihrer Mutter teilt. Man wird nicht darauf hingewiesen (klammern wir den Titel des Filmes bzw. Buches aus, der in seiner Funktion als Paratext natürlich schon Bedeutung generiert), dass es sich bei dieser Frau um eine Klavierspielerin handelt. All das erfährt man aus dem ersten Satz des Romans von Elfriede Jelinek. Damit hat man schon mehrere Fakten um in den Roman weiter vorzudringen. Ganz anders beim Film. Hier erfahren wir nur Informationen, die uns zu Assoziationen anregen und relativ wenig Fakten. Wir wissen nur, dass eine Frau in ihre Wohnung tritt und von irgendwo herkommt. Das Geräusch des Fernsehers aus dem Off lässt uns nur vermuten, dass SIE hier nicht alleine wohnt. Es könnte aber auch eben so gut sein, dass SIE den Fernseher ganz einfach vergessen hat auszuschalten. Das ruhige und zaghafte, leise öffnen der Tür würde wiederum Ersteres erahnen. Ganz sicher wird im Film anders als im Buch nicht deutlich, dass SIE in dieser Wohnung mit ihrer Mutter zusammen wohnt.
Als Zwischenschritt meiner Argumentation soll ein kurzes Resümee dazu dienen noch tiefer in diesen Vergleich zweier sich seit Jahrzehnten gegenseitig bedienender Medien vorzudringen. Bisher ist in dem angefangenen Vergleich zu Tage getreten, dass wir in dem ersten Satz des Romans von Elfriede Jelinek mehr faktuale Informationen geliefert bekommen, als in dem Film von Michael Haneke. Die erste Einstellung des Films deutet eigentlich nur mehrere Aspekte an – wodurch Assoziationen des Zuschauers entstehen, sich entwickeln – und macht nicht auf sicher gegebene Tatsachen aufmerksam. Diese Differenz – freilich eine Differenz, die an diesem Beispiel fixiert werden muss und nicht als allgemeingültig gelten kann – macht gleichsam auf einen immanenten Unterschied zwischen diesem Film und diesem Buch aufmerksam: durch die faktuale Sprache des ersten Satzes vom Roman der Schriftstellerin Elfriede Jelinek wird zunächst einmal das Denken des Lesers auf wenigere Aspekte als beim Film gelenkt. Im Film fächert sich alleine dadurch ein riesiger Assoziationsbereich auf, da man eben die zuvor in meiner Argumentation eruierten Dinge nicht genau wissen kann und bestimmte Fakten für die folgende Filmlektüre einfach nicht in dem Maße wie beim Buch gegeben sind. Es bleibt also festzuhalten, dass im Film zunächst eine riesige Flut möglicher Deutungen entstehen kann und der Zuschauer nicht genau weiß in welche Richtung der Film voranschreiten wird. Im Buch wird man eher in eine Richtung gelenkt und wie schon erwähnt über die verwendete Sprache durch eine Sicherheit des faktualen Wissens in die Geschichte eingeführt.
Dennoch entstehen im Roman Fragen, die zunächst nicht geklärt werden können: Warum lebt Erika Kohut mit ihrer Mutter zusammen? Was veranlasst SIE wie ein Wirbelsturm in die Wohnung zu stürzen? Wo war diese Klavierlehrerin bevor SIE in die Wohnung tritt? Letztere Frage entsteht und bleibt in gleichem Maße auch im Film zunächst unbeantwortet. Trotz all dem bisher Gesagten fällt bei der Betrachtung der ersten Kameraeinstellung ein sehr wichtiger faktualer Aspekt des Films auf, der im Roman gänzlich der Phantasie des Lesers überlassen wird: das Erscheinungsbild der Wohnung. Die Wohnungstür ist sehr alt, die Tapeten verkörpern einen älteren Stil; es ist ganz sicher ein älteres Haus. Das sind Tatsachen, die der Film dem Zuschauer liefert und ihn in ein ganz bestimmtes Milieu einführt.
Das Verschließen der Tür durch ein Türschloss deutet in diesem Zusammenhang sicher auf eine Angst vor etwas hin; man sperrt sich von der Welt aus; schottet sich ab; hat vielleicht etwas zu verbergen. Was genau, weiß man wiederum nicht.
Um diese Betrachtung auf einige abschließende gewinnbringende Sätze zu bringen, möchte ich nun nochmals klarstellen, dass wir im Buch von Elfriede Jelinek durch ihren aller ersten Satz weitaus mehr Fakten und Informationen bekommen, die uns durch die Handlung führen werden. Im Film fehlen diese Informationen fast gänzlich. Man kann durch das Bild und den Ton Assoziationen anstellen, aber weder mit Sicherheit sagen wer diese Frau ist, noch was beispielsweise das Fernsehgeräusch im Hintergrund zu bedeuten hat. Der Film führt also in diesen Beispielen mit einer anderen Sprechweise in das Thema ein als die Literatur. Um meiner Arbeitsfrage nun genauer auf den Grund zu gehen, sei durch meine ausführliche Betrachtung darauf hinzuweisen, dass der Film nun mal mit ganz anderen Mitteln agiert, als die Literatur. Das war sicherlich vorher schon klar, aber wird an diesem Beispiel sehr deutlich; vor allem aber erscheint gerade das für mich nun der interessante Aspekt an dem Verhältnis von Buch und Film zu sein, nämlich inwieweit in beiden Medien anders operiert werden muss, weil ganz einfach die ästhetischen Möglichkeiten völlig andere sind.
© Thomas Ochs (28.11.08)