Elisabeth Klar: Reflexionen über „Le poulet du dimanche“ von Sylvie Fontaine, „Lust“ von Elfriede Jelinek und das Lachen bei Julia Kristeva

Le poulet du dimanche von Silvie Fontaine und Lust von Elfriede Jelinek haben auf den ersten Blick gemeinsam, dass sie (stereo-)typisierte und generell destruktive Paar- und Familiendynamiken beschreiben, in denen die einzelnen Geschlechter in ihren jeweils relativ fixen Rollen gefangen bleiben. In beiden Werken findet eine Art Deformation statt – während in Lust die sexuellen Handlungen zu einem surrealen obszönen Wortschwall kulminieren, der die Akteure entmenschlicht und zu „sexuellen Hochleistungsmaschinen“ (Jelinek 1989, Klappentext) werden lässt, deformieren sich die Figuren Fontaines recht wörtlich, verlieren ihre Menschlichkeit, indem sie zu Schlingpflanzen und gepanzerten Robotern werden. Abgesehen von diesen Aspekten haben Lust und Le poulet du dimanche allerdings auch gemein, dass sie gemeinhin nicht als lustig rezipiert werden würden.
Trotzdem denke ich, dass sie beide jenes Lachen realisieren, das Julia Kristeva in der Revolution der poetischen Sprache bei Mallarmé und bei Lautréamont anspricht, dass sie „ethisch“ im Sinne Kristevas sind. So darf nach Kristeva nicht von einem Text verlangt werden, „eine für ‚positiv‘ gehaltene Botschaft mitzuteilen“ (Kristeva 1978, S. 226). Anstatt „eindeutige“ Aussagen zu machen, soll er Wahrheiten „pulverisieren“, „musizieren“, „dem Lachen zuführen“, „zum Lachen bringen“ (Kristeva 1978, S. 227).
Doch wie kann man einen Text oder Comic als Lachen bezeichnen, der den/die Leser/-in nicht unbedingt zum Lachen bringt? Dadurch, dass in der Textpraxis der Lustgewinn „unmittelbar in die Herstellung von etwas Neuem investiert“ wird (Kristeva 1978, S. 219)? „Das Neue verschweigt das Lachen und ist doch sein Äquivalent“, schreibt Kristeva (Kristeva 1978, S. 219). Ebenso könnte Le poulet du dimanche das Lachen verschweigen und doch Lachen sein. Das Lachen kennzeichnet „genau das Moment des Triebausbruchs gegen das symbolische Verbot“ (Kristeva 1978, S. 217), es ist nach Lautréamont und Kristeva ein „Symptom des Bruchs, des heterogenen, der signifikanten Praxis innewohnenden Widerspruchs“ (Kristeva 1978, S. 217). Lachen ist das, was „Verbotsschranken hebt“, was in das Verbotene den „gewaltsamen, befreienden Trieb“ hineinträgt (Kristeva 1978, S. 218).
Beide genannten Texte konzentrieren sich auf die Beschreibung destruktiver Dynamiken, und ohne Zweifel ist die künstlerische Hyperbel, die bei beiden Autorinnen verwendet wird (das Akkumulieren von sexuellen Handlungen beziehungsweise die fantastischen Metamorphosen), gewaltsam, gerade gegenüber den Objekten dieses „Witzes“. Und möglicherweise liegt gerade in dieser Hyperbel auch die Befreiung – nicht nur wird ausgesprochen, was nicht ausgesprochen werden darf (und damit Verbotsschranken gehoben), es wird auch noch maßlos über- und damit ins Absurde getrieben. Die erzählten Geschichten sind grotesk – und die erzählten Körper sind grotesk, gerade bei Jelinek durchaus auch in der Art und Weise, wie Bachtin es für den karnevalesken Körper gemeint hat: Wie Bachtin interessiert sich Elfriede Jelinek in diesem Buch vor allem für Körperein- und Ausgänge, für seine Grenzen zwischen Innen und Außen und für das Überschreiten dieser Grenzen (vergl. zum Beispiel Jelinek 1989, S. 50ff.). Für Sylvie Fontaine dagegen scheinen diese Grenzen in ihrem herkömmlichen Sinne nicht einmal zu existieren – die Körper ihrer Figuren kennen sie zumindest nicht, mutieren wie Krebsgeschwüre und infizieren sich gegenseitig in diesem Prozess. In einer ihrer Kurzgeschichten wird ein Vater gegenüber seinem Sohn gewalttätig (es ist unklar, ob es sich dabei um physische oder verbale Gewalt handelt) und dringt recht wörtlich in ihn ein, bedroht dessen Identität, die sich auflöst und mit der des Vaters vermischt. Als sich der Sohn, im Zimmer zurückgelassen, wieder zusammengesetzt hat, erkennt man in der neu geschriebenen visuellen „Identität“, beziehungsweise des neuen Körpers, Teile des väterlichen aggressiven Persönlichkeit und Teile des Panzers, die der Sohn gegen den Vater angelegt hat (Fontaine 2007, S. 29).

Klar_Elisabeth

Sylvie Fontaine: Le poulet du dimanche. Lyon, Edition Tanibis 2007. S. 29.

Le poulet du dimanche kann gar keine eindeutige „positive“ Aussage machen, weil er ein wortloser Comic ist, sozusagen schweigt, und damit eine eindeutige Interpretation immer fragil ist. Lust hingegen redet immerzu, der Redefluss mag gar nicht aufhören, doch besteht diese Rede nur im Aufzählen von Handlungen, von Obszönitäten – und ist es zu weit hergeholt zu sagen, man könne durch diesen Redefluss dasselbe Schweigen durchhören, das wir bei Sylvie Fontaine finden?
Wenn ich sage, dass beide Werke auch von einem gewissen Schweigen geprägt sind, meine ich damit nicht, dass diese gar nichts aussagen, dass sie sich dem Urteil oder der Interpretation der Ereignisse entziehen. Im Gegenteil glaube ich, dass beide eine/mehrere Wahrheit(en), und dezidiert politische Wahrheiten ausdrücken. Aber ist schwer, diese Wahrheit auszusprechen, und das liegt vielleicht an genau daran, dass sie musiziert wird, pulverisiert wird, ganz im Sinne Julia Kristevas. Sie ist gebrochen, sie widerspricht sich selbst, und gleichzeitig ist sie rythmisiert (man denke an die Sprachmelodie bei Jelinek). Sowohl bei Fontaine als auch bei Jelinek werden jedenfalls die Zeichen ihrer Harmlosigkeit beraubt, die dunkle, destruktive und gleichzeitig so absurde Seite der (kulturellen) Zeichen blitzen in kurzen „Pointen“ auf – beide Künstlerinnen gehen von einem der „harmlosen“ Norm entsprechenden Representamen (visueller oder linguistischer Art) aus und kehren schlagartig Innen nach Außen, zeigen auf, was unter dem Bild des Familienidylls, was unter der Verwendung gebräuchlicher Sprichwörter liegt. Vielleicht nähert sie gerade das dem Witz an, dessen plötzlicher Umkehrung von Erwartetem, das nicht selten einen erschreckenden Charakter besitzt.
Ich weiß nicht, ob ich mich in diesen Ausführungen einer möglichen „lachenden“ Interpretation der beiden Werke angenähert habe, ich bin jedenfalls noch weit davon entfernt, dieselbe mit schlüssigen Beweisen zu unterlegen. Aber ist nicht eben das das Problem des Witzes, dass er nicht paraphrasierbar ist und dass seine Wahrheit nicht problemlos umschrieben, sondern nur in der Wiederholung seiner Pointe und damit seiner selbst ausgesprochen werden kann?

Verwendete Literatur

  • Bachtin, Michail: Karneval und Literatur. München, Carl Hanser Verlag 1969.
  • Fontaine, Sylvie: Le      poulet du dimanche. Lyon, Edition Tanibis 2007.
  • Jelinek, Elfriede: Lust. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1989.
  • Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1978.