Die Entwicklung zeichnete sich bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ab: Unter dem Aspekt des „Sichtbarmachens“ entstanden 1999 erste Literatur-Plattformen wie ampool.de. – heute die Adresse eines Internet-Shops. Von „Intertextualität“ und „Dialogizität“ war die Rede. Mit diesen beiden von der Internet-Generation eingeforderten Begriffen spielte Elfriede Jelinek bereits 1970. In der „Gebrauchsanweisung“ für ihre Montage-Prosa wir sind lockvögel baby! appelliert sie an ihre Leserschaft: „Sie sollen die untertitel auswechseln. Sie sollen hergehen & sich überhaupt zu VERÄNDERUNGEN ausserhalb der legalität hinreissen lassen“.
Als Resultat eines langjährigen Nachdenk-Prozesses über alternative Formen der Literaturvermittlung formulierte Elfriede Jelinek 1993: „Durch meine Beschäftigung mit den neuen elektronischen Medien, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass neue Formen der Literatur gefunden werden müssen, in denen der Rezipient von Kunst selbst auch in das Material, das ihm vermittelt wird, eingreifen können muss. Der Betrachter wird Teil des Werks.“ Sprach´s und entwarf mit Gottfried Hüngsberg ein Videospiel mit dem Namen Trigger your Text. Der Joystick als Fliegenklatsche, der Gewinn – eine Textstelle aus Elfriede Jelineks Buch Wolken.Heim. Die Steigerung des Schwierigkeitsgrades ermöglicht es, in weitere Textebenen vorzudringen, die nach dem System des deutschen Idealismus aufgebaut sind – der „reinen“, der „politischen“ und der „praktischen“ Idee.
Wesentlich uninspirierter geht es heute zuweilen im Web 2.0 zu, wo sich Exhibitionismus mit Gemeinsinn verschwistert. Hier findet jeder/e auch ohne Verlag oder Filmproduktionsfirma sein/ihr Publikum.
Faktum ist, dass die neuen Technologien einerseits zu einer Partikularisierung der Produktionsstile und der Wahrnehmungsweisen führen, andrerseits zu einem stets weiter transformierten „Community generated content“ und damit zu einer veränderten Form des „Autors“. Der „Dilettant“ hat nun ganz andere Chancen, da auch die dramaturgischen Formen andere, „dynamischere“ geworden sind. In diesem Sinne „Avanti, Dilettanti!“
Auf Plattformen wie Youtube oder Myspace herrscht ein Drang zur alltäglichen Selbstbespiegelung. Eine Flut von Alltags-Blogs prasseln auf den User ein, der blitzschnell von einem für ihn/sie interessanten Knüller zum nächsten klickt.
Elfriede Jelinek beschreitet exakt den gegenteiligen Weg der für unsere Zeit typischen „You tube-Poetik“, in der jeder/e das Netz mit virtueller „Ich-Literatur“ (darunter verstehe ich multimedial generierte Selbstdarstellung, die darauf abzielt, Erfolg bei der jeweils relevanten Community zu erlangen) füttern kann.
Obwohl Elfriede Jelinek ihren Text „Privatroman“ nennt und auf ihrer Internetseite unter dem Titel Neid kostenlos publiziert, wollen die in elaborierter und gewohnt überbordender Sprache verfassten 81 Seiten so gar nicht in das schnelllebige Medium passen: Ihr geht es nicht um Aufmerksamkeit, denn die hat sie. Jeder Verlag würde die Literatur-Nobelpreisträgerin selbstverständlich mit Handkuss nehmen. Dennoch zieht sie die demokratische Verbreitungsform des Internets vor. Der Direktkontakt zu den UserInnen – ohne zwischen geschalteter Instanz eines Verlages – beflügelten Jelinek, „literarisch mehr riskieren zu können“, wie sie in einem Interview verrät, „der Text wird sozusagen privat aufgeladen, etwas, das ich mich bisher kaum getraut habe.“ (FALTER, 18/2007)
„Privat“ ist bei Elfriede Jelinek natürlich ironisch gemeint und bedeutet alles andere als unreflektierte „Ich-Ausbreitung“. In konsequenter Weiterführung ihrer Themen geht es um Leben und Tod. Auch wenn an der Oberfläche vom Verschwinden einer industriellen Landschaft die Rede ist. Neu daran ist, dass das Verschwinden des auktorialen „Ich“ richtig gehend herbeigesehnt wird. Man müsse „nur einen Fingerdruck abgeben, das Ix, das Kreuzerl dort oben rechts erwischen, und schon bin ich weg, verschwunden und mit mir mein Textkörper, durch den ich leben muss und er durch mich“, schreibt sie. Es obliegt jeder/m Leser/in jederzeit, Jelineks „verschrifteten Leib“ wegzuklicken oder ganz zu löschen. Dieses Nicht-ganz-da-Sein-Müssen im eigenen Text ermutigt Elfriede Jelinek scheinbar, erstmalig in unzynischer Weise ihre eigene Verletzlichkeit zu offenbaren. Von den Zumutungen des (Literatur-, Gesellschafts-, politischen) Betriebs ist die Rede, von Kränkungen und von der Unmöglichkeit unter solchen Voraussetzungen unbeschadet leben zu können…
Doch die Erfahrung lehrt uns: Fortsetzung folgt!
Sabine Perthold (Wien) ist Medienwissenschafterin, Germanistin und Herausgeberin diverser Publikationen.