Jörg Pottbeckers: „Man soll den Text überhaupt nicht ausdrucken“. Medialer Übergang und narratives Identitätsspiel in Elfriede Jelineks Internetroman „Neid“

Im Jahre 2007 publizierte Jelinek mit „Neid“ ihren bis heute letzten Roman. Erstaunlich – nicht nur in ökonomischer Hinsicht – war hier dran, dass die Literaturnobelpreisträgerin diesen Text ausschließlich online veröffentlichte, ja sogar explizit dazu aufforderte, den Roman nicht auszudrucken, sondern lediglich online (oder auf dem Handy bzw. E-book) zu lesen. Ausdrucken, so Jelinek, sei „Papierverschwendung“, denn ‚Neid’ „gehört nicht auf Papier, er gehört in den Computer hinein, dort habe ich ihn hineingestellt, dort habe ich ihn deponiert, dort kann er in Ruhe verderben wie Müll“. Verderben wie Müll? mag man sich hier fragen. Inwiefern können Online-Texte überhaupt verderben? Zu verstehen ist diese Formulierung sicherlich nicht im Sinne von etwas Unbrauchbarem, sondern vielmehr als Ausdruck einer begrenzten Zeitlichkeit: Der Text ‚Neid’, für den Jelinek konsequenterweise die Bezeichnung Buch ablehnt, ist zum raschen Verbrauch bestimmt „wie ein Hamburger oder eine Leberkässemmel“, er trägt quasi (allein schon dadurch, dass er jederzeit wieder vom Server genommen werden könnte) ein Verfallsdatum. Diese Eigenaussagen der Autorin (ebenfalls online veröffentlicht unter dem Titel „Keine Anweisung, keine Auszahlung, kein Betrag, kein Betrug. Ein paar Anmerkungen zu ‚Neid‘) sind natürlich mit Vorsicht zu genießen: Degradiert Jelinek hier ihren eigenen Roman etwa zu literarischem Fastfood? Wohl kaum, vielmehr nutzt Jelinek den medialen Übergang vom gedruckten zum elektronischen Text einmal in rezeptionsästhetischer Hinsicht, zum anderen für ein ambivalentes narratives Identitätsspiel, bei dem die Grenzen zwischen empirischer Autorin und fiktiver Erzählerfigur zunächst scheinbar miteinander verschmelzen, um sich schließlich in größtmöglicher Opposition gegenüberzustehen. Zudem betont der irritierende Fastfood-Vergleich nachdrücklich das Episodenhafte von ‚Neid‘, dessen Lektüre als Fragment, häppchenweise, kurz für zwischendurch, keinesfalls als Ausdruck der Geringschätzung zu begreifen ist.
Aber was ist das eigentlich – ein Privatroman? Jelinek entgegnete auf diese Frage in einem FAZ Interview: „Das bedeutet, dass der Roman nur privat erscheint, sozusagen im Selbstverlag, aber auch, dass, umgekehrt, mehr Privates in den Text einfließt als sonst.“ Auf die nachfolgende Frage, warum der Text ausschließlich online veröffentlicht wird, antwortete die Autorin recht kryptisch: „Das Internet ist aber eine andere Form der Öffentlichkeit, denn die Öffentlichkeit im Netz ist virtuell. Wenn alle etwas lesen können, dann kann es eben auch keiner. Ich schreibe den Text, aber gleichzeitig kann ich mich auch hinter ihm verstecken, denn er ist ja sozusagen nicht-geschrieben.“ Eine ambivalente, ja eigentlich widersprüchliche Haltung wird hier deutlich: Einerseits scheint der Internetroman prädestiniert dafür zu sein, mehr Privates zu offenbaren, gleichzeitig kann man sich, so Jelinek, vor diesen privaten Äußerungen im Onlinemedium ausgezeichnet verstecken. An dieser Stelle könnte man, ja muss man fragen: Warum eigentlich? Ist nicht gerade ein Text, der online jederzeit für alle verfügbar ist weit weniger zum dahinter-verstecken geeignet als eine Buchpublikation, die sich, zumindest potentiell, an einen deutlich kleineren Leserkreis wendet? Für die Autorin offensichtlich nicht. Eine paradoxe Situation freilich: In einen Text, der sozusagen nicht geschrieben wurde, lässt Jelinek mehr Privates einfließen, um sich dann hinter dem nicht-geschriebenen Text zu verstecken.
Worin unterscheidet sich aber der gedruckte vom elektronischen Text? Zunächst in einer scheinbaren Banalität: Jelineks Internetroman ist kostenlos. Für die Erzählerin in ‚Neid’ impliziert der Begriff kostenlos allerdings eine zentrale Bedeutung für ihr Erzählen und die Rezeption dieses Erzählens: Der Leser darf sich nicht beklagen. Worüber? Über die von der Erzählerin selbst eingestandenen Defizite: Zu wenig Handlung. Endlose Abschweifungen. Missglückte Formulierung. Eine langweilige Hauptfigur. In ständigen Leseransprachen propagiert die Erzählerin eine gleichermaßen paradox anmutende rezeptionsästhetische Maxime und radikale Autonomieerklärung, die dem Leser nur dann ein Recht auf Kritik einräumen würde, wenn er den Text als Buch gekauft hätte. Diese Erzählerautonomie lässt sich aber durchaus als Autorautonomie auffassen: Frei von jeglichen Verwertungszwängen herrschen im Text ‚Neid’ autonome Innerlichkeit und Privatheit – in ihrer denkbar öffentlichsten Form. Spielerisch verwischen dabei scheinbar die Grenzen zwischen der Erzählerin im Roman (die sich „E.J.“ nennt und unzählige Analogien zur Autorin aufweist) und der empirischen Person Jelinek. Die Option, mehr Privates einfließen zu lassen, scheint sich also zunächst in einer Annäherung, ja beinahe Verschmelzung von empirischer Autorin und Erzählerfigur zu konkretisieren.
Eine Banalität, könnte man meinen: Erzählerfiguren, die sich problemlos mit dem Autor identifizieren lassen oder als offensichtliches Sprachrohr des Autors fungieren sind nun wirklich keine Novität in der Literatur. Allerdings radikalisiert Jelinek dieses Prinzip in einem solchen Maß, dass schon allein die Frage, um was für eine Erzählerfigur es sich eigentlich handelt, Schwierigkeiten bereitet. Homodiegetisch, Heterodiegetisch, Autodiegetisch? Die Erzählerin ist nicht Teil der erzählten Welt, sie handelt nicht. Jedoch gibt es eigentlich auch keine Handlung, entsprechend ist die Erzählerin quasi doch die Hauptfigur. Quasi deshalb, da es sehr wohl eine Figur gibt, über die die Erzählerin berichtet. Oder besser – berichten will. Tatsächlich aber bricht sie immer wieder ab, zugunsten von Reflexionen über sich und eine erstaunliche Vielfalt sonstiger politischer, sozialer und kultureller und geschichtlicher Themen. Die vorhin erwähnte Radikalisierung besteht nun genau darin, dass die Analogien zwischen Jelinek und der Erzählerfiguren nicht subtil oder gar filigran gestrickt werden: Mit auffälliger Penetranz wird auf die vermeidliche Gleichheit von Autorin und Erzählerin verwiesen: Die Initialen der Erzählerin lauten, wie bereits erwähnt, E.J., zudem bezeichnet sie sich also Verfasserin von „Lust“, tituliert sich als „Nestbeschmutzerin“, sie hat einen Hund namens Floppy (wie Jelinek) ist genauso alt wie Jelinek, sieht so aus etc. etc. – kurz, Autorin und Erzählerin haben eine identische Biographie. Die Erzählerin behauptet, Jelinek zu sein, bzw. Jelinek suggeriert, die Erzählerin zu sein. Hinzu kommt, dass die Erzählerin über genau jene Themen reflektiert und genau solche Ansichten propagiert, die Jelinek auch in ihrem essayistischen Werk behandelt. Zu nennen wären hier: die in Österreich während des Nationalsozialismus, begangene und (zumindest teilweise) verdrängte Verbrechen, Sport und Sporttourismus, Fernsehen, Paris Hilton, Christina Aguilera, Geschlechterrollen, Josef Fritzl und immer wieder Natascha Kampusch. Diese Auflistung mag willkürlich und zusammenhanglos erscheinen, allerdings springt die Erzählerin in „Neid“ mit einer ebensolchen Willkür und scheinbaren Planlosigkeit zwischen ihren Reflexionen hin und her. Die Verknüpfung ist, wenn überhaupt vorhanden, dann eher assoziativ.
Vorsichtig resümierend lässt sich an dieser Stelle fragen: Ist der Begriff der „Privatheit“, den Jelinek exklusiv dem Internetroman zuschreibt, hier in dem Sinne verwirklicht, dass die Autorin unmaskiert als sie selbst sprechen darf und kann? Anders formuliert: Ist die Erzählerin tatsächlich Jelinek, spricht also im Roman die empirische Autorin? Ganz ausdrücklich – nein. Es spielt grundsätzlich überhaupt keine Rolle, wie groß die Analogien zwischen Erzählerin und Autorin sind, eine Identität zwischen beiden Instanzen konstruieren zu wollen ist schlicht abwegig. Mag es auch ein Privatroman sein, es ist eben auch ein Roman. Die Erzählerin ist entsprechend eine fiktive Figur wie alle anderen auch. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Erzählerin und Jelinek analoge Meinungen vertreten, nur wäre es fahrlässig naiv zu behaupten, Jelinek selbst spricht in „Neid“. Wichtig aber ist, dass Jelinek mit dieser signifikanten Erzählerfigur genau das suggeriert: Ich, Jelinek, ich spreche in Romanform. Und auf eine gewisse Weise macht Jelinek ja auch genau das. Gleichzeitig aber, vielleicht noch viel vordergründiger, macht Jelinek etwas anderes: Sie spielt. Sie inszeniert. Sie spielt mit einer rezeptionsästhetischer Erwartungshaltung indem sie sich selbst als Erzählerin inszeniert. Das Resultat dieser Selbstinszenierung ist ambivalent: Oberflächlich wird zwar der Eindruckt erweckt, eine Art Jelinek-Essay in Romanform zu lesen, gleichzeitig wird aber auch durch den fiktiven Rahmen des Romans eine weit größere Distanz zum Gesagten hergestellt als in einem nicht-fiktionalen Text. Möglicherweise lässt Jelinek also tatsächlich mehr Privates in einen Internetroman einfließen als in einen gedruckten Roman. Nicht aber das Medium selbst, so scheint es, sondern vielmehr die ungewöhnliche Art der Erzählerfigur ermöglicht ihr, sich hinter dem Gesagten zu verstecken. Das Spielerische besteht also genau darin, dass der Text unentscheidbar zwischen privat und öffentlich, zwischen Nähe und Distanz oszilliert. Unentscheidbar scheint aber bei Jelinek auch zu sein, wo denn eigentlich ihre Selbstinszenierung überhaupt anfängt und wo gewissermaßen die authentische Jelinek auftritt. Mit guter Begründung könnte man natürlich (und das nicht nur bei Jelinek) jede öffentliche Aussage als Inszenierung betrachten. Das absurde öffentliche Bedürfnis, etwas über die private Person hinter dem Künstler zu erfahren, wäre demnach hier von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn Jelinek also Erzählerin und empirische Autorin scheinbar miteinander verschmelzen lässt, sollte man auch in Betracht ziehen, dass sie uns einfach eine lange Nase zeigt. Unwissenschaftlich und zugespitzt formuliert natürlich, allerdings hat die versuchte Überlappung von Autorin und Erzählerin eine fast schon paradoxe Implikation: Betrachtet man nämlich das Schreiben als den identitätsbildenden Akt par excellence, so scheint Jelinek in „Neid“ selbst zu einer literarischen Figur zu werden – und damit zur Fiktion. Es ist also keineswegs so, dass die Erzählerin E.J. eine Art Tür zur Autorin Elfriede Jelinek öffnet, sondern tatsächlich ist durch die eigene Literarisierung das Gegenteil der Fall. Die Autorin verschwindet und damit ist der Text auch ein nicht-geschriebener.
Jelineks Medienwechsel und der Begriff der Privatheit haben aber eine noch ganz andere, auf die Inhaltsebene des Romans projizierte Konsequenz. Zunächst sei aber kurz auf eine Frage eingegangen, die eigentlich banal klingt: Warum geht es überhaupt in „Neid“? Zu behaupten, es wäre ein Roman ohne Handlung, ist nicht ganz richtig. Tatsächlich lässt sich aus dem rund 900 Buchseiten langen Text eine rudimentäre Handlung extrahieren, auch wenn gut 9 Zehntel des Textes aus Erzählerreflexionen und Kommentaren bestehen.
Die Erzählerin versucht die Geschichte der Geigenlehrerin Brigitte K. zu erzählen. Diese Brigitte K. ist um die fünfzig Jahre alt, war verheiratet mit einem Elektrohändler, ist kinderlos und lebt nun alleine in einer kleinen Stadt, in der sie Musikunterricht gibt. Das Verhältnis der Erzählerin zu ihrer Figur ist vor allem durch eines gekennzeichnet: Langeweile. Entsprechend beklagt sich die Erzählerin permanent über die natürlich selbstauferlegte Zumutung des Erfinden-müssens. Beispielsweise bemerkt die Erzählerin über Brigitte K.: „Sie sagt mir nichts, also muss ich alles erfinden. Entsetzlich.“ Und einige Seiten weiter heißt es ähnlich: „Was Brigitte K. betrifft, von der die Rede sein soll, aber nicht und nicht ist, weil ich sie nicht mit ins Boot kriege, komisch, so sehr ich mich anstrenge, desto mehr entgleitet sie mir, dabei schufte ich mich hier kaputt, meine Hände sind ganz naß und glitschig, was Brigitte K. betrifft, so weiß ich nicht, was aus ihr werden soll, nicht einmal was sie ist, ich meine als Mensch“. Nur ab und an räumt die Erzählerin gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihrer Figur ein, am deutlichsten vielleicht in der Formulierung: „Brigitte, mein altes Ego“. Es überwiegen aber Abneigung und Ratlosigkeit, kombiniert mit einer selbsteingestandenen erzählerischen Inkompetenz: „Ich kann es nicht, das Erzählen.“ Dabei gäbe es „so viel an Brigitte K. zu entdecken! Was, sie wollen nicht? Kann ich verstehen […] Mir persönlich schlafen die Füße ein, wenn ich die schon sehe“. Schließlich, nach einigen eher fragmentarischen biographischen Angaben zu ihrer Figur resümiert die Erzählerin erschöpf und ratlos: „Und so ist diese Frau. Ungefähr. Ich weiß auch nicht.“
Die Auseinandersetzung mit ihrer Protagonistin zieht sich aber auch im Folgenden durch den Text, ohne das freilich auf der Handlungsebene irgendwelche nennenswerten Fortschritte gemacht werden. Mal fleht die die Erzählerin ihre Figur regelrecht an, doch endlich die Handlung voranzutreiben „Brigitte, bitte beginne endlich, du hast unsere ganze Aufmerksamkeit, Erzählung, beginne jetzt ebenfalls, nach über hundert Seiten oder so“; mal scheint die Figur ihre Erzählerin durch eine autonome Eigendynamik zu überraschen: „Brigitte, leg endlich die Geige weg! Ach so, das hast du ja schon getan, entschuldige bitte! Wenn man nur einen Moment nicht aufpasst, dann passiert sowas!“, dann wieder wird der Figur willkürlich und scheinbar aus einer kreativer Flaute heraus irgendeine Eigenschaft angedichtet: „Diese Frau trinkt. […] Ich habe mir gedacht, sie soll saufen, die Brigitte K., das tun schließlich alle, da muß ich mich nicht anstrengen, so etwas zu erfinden.“
Festzuhalten bleibt zunächst zweierlei: Erstens ist Brigitte K. eine unglaublich langweilige Figur, über die es eigentlich nichts zu sagen gibt, zweitens (und kaum zu trennen vom ersten Punkt) ist die Erzählerin als Erzählerin inkompetent und überfordert. Signifikant heißt es: „Weiter weiß ich nicht. Na, erfüllt das Ihre Ansprüche ans Erzählen? Nein, auch nicht? Viel zu umständlich? Völlig uninteressant! Hätte man viel kürzer sagen können? […] Wie soll ich denn über Brigitte K. schreiben, wenn ich sie jetzt schon, sie, die ich selber erfunden habe, dauernd verliere? Wie soll ich diese Geschichte sagen, wenn sich nichts ereignet?“ Aber auch ihre Reflexionen, ihre Abschweifungen (aus denen der Roman ja hauptsächlich besteht in Ermanglung einer erzählbaren Geschichte) leiden unter sprachlichen Defiziten. Wenn die Erzählerin sich, was selten vorkommt, mit den Worten „Bravo! Solch kurze Sätze gelingen mir ja auch! Hätte ich gar nicht gedacht“ selbst lobt, verdeutlicht dies lediglich ihre Unzufriedenheit mit dem sonst Gesagten. Erst gegen Ende rafft sich die Erzählerin auf und skizziert eine kurze, blutige Liebesgeschichte zwischen Brigitte und einem namenlosen jungen Mann, auf die aber an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.
„Neid“, so könnte man als Zwischenfazit konstatieren, ist ein Roman über das Erzählen, über den Prozess des Schreibens selbst, der die mühsame Entstehung eines Romans thematisiert. Man assoziiert unwillkürlich eine Autorin, die eine Geschichte schreiben will, mit ihrer Hauptfigur hadert, der kein brauchbarer Plot einfällt, der aber tausend andere Dinge assoziativ durch den Kopf gehen. In diesem Sinne ist „Neid“ möglicherweise auch als Privatroman zu verstehen – die Autorin Jelinek gibt einen (natürlich literarisch stilisierten) Einblick in ihren kreativen Schaffensprozess. Dadurch wird auf den Artefaktcharakter jeglicher Literatur nachdrücklich verwiesen und zugleich, durch die metafiktionale Implikation, das Gesagte relativiert. Die Erzählerin nämlich als eine Unzuverlässige zu beschreiben, wäre fast noch eine Untertreibung, tatsächlich fordert sie den Leser explizit dazu auf, ihr nicht zu glauben: „Sie dürfen mir nicht glauben, wenn ich etwas sage, ich weiß ja gar nicht, wovon ich überhaupt spreche.“ Das Resultat dieser Art von Erzählen ist auch wiederum das Schaffen einer größtmöglichen Distanz. Jelinek baut also nicht nur einen expliziten Abstand zur ihrer Erzählerfigur auf, sondern ebenso zu den inhaltlichen Aspekten des Textes.
Gleichzeitig ist Jelineks Medienwechsel und die sich daraus ergebene Unabhängigkeit von Verlagen und Lektoren die von der Erzählerin wiederholt ausgesprochene Möglichkeit, rücksichtslos zu schreiben. Was heißt das? Die Erzählerin legitimiert das Recht auf eine radikale künstlerische Autonomie mit dem Verweis darauf, dass der Text umsonst, kostenlos ist. Das selbsteingestandene Defizitäre ihres Erzählens ist eine Form der Leseransprache, die potentielle Einwände erkennt und formuliert – aber eben auch ignoriert. Beinahe höhnisch, fast schadenfroh wird der Tonfall der Erzählerin, wenn sie immer wieder ihren Lesern – die auch immer wieder direkt angesprochen werden – vorhält, dass sie für den Text ja nichts bezahlen mussten und sich entsprechend auch nicht beklagen dürfen. Die scheinbaren Unzulänglichkeiten des Romans werden ja eben keineswegs korrigiert, vielmehr bleibt der Text genauso – scheinbar – fehlerhaft wie er ist. So lauten beispielsweise die ersten Sätze des dritten Kapitels: „Ich glaube, das können Sie auslassen, ich meine überschlagen! Aber bitte, treffen Sie mich nicht dabei! Das wird nie fertig, also mache ich es fertig! Ach, ich glaube, ich kriege das nicht hin.“ In direkter Leseransprache wird hier zunächst auf das Unzulängliche, ja die Nichtigkeit des Nachfolgenden hingewiesen, anschließend werden Zweifel an der eigenen erzählerischen Kompetenz formuliert, um schließlich eben doch ein umfangreiches weiteres Kapitel zu erzählen. Ironie scheint hier naheliegend, greift aber zu kurz. Tatsächlich tritt im gesamten Roman eine Erzählerin auf, die befreit von jedweder rezeptiven Erwartungshaltung und merkantilen Zwängen ihre narrative Autonomie zelebriert. Die despektierlich als Abschweifungen apostrophierten Exkurse und Reflexionen sind nicht störendes, unterbrechendes Beiwerk, sie sind de facto der eigentliche Roman. Nur werden Sie eben nicht von einer Geschichte flankiert oder durch einen Plot transportiert sonder direkt und umstandslos zur Sprache gebracht. Jelineks „Neid“ ist ein Roman in Form einer fiktionalisierten Essaysammlung.
Die Schwierigkeit, einen Jelinek-Essay überhaupt von einem Jelinek-Prosatext zu differenzieren, hat nicht zuletzt auch sprachliche Ursachen. Es gibt, so könnte man etwas zugespitzt sagen, eine typische Jelinek-Sprache, die sie sowohl für ihr essayistisches als auch für ihr erzählerisches Werk benutzt. Was genau ist das für eine Sprache? Es ist eine ent-rückte, ver-rückte Sprache: eine Kunstsprache, eine witzige Sprache, ein Spiel mit Inhalt und Ausdrucksweise als Zeichen tiefen Misstrauens gegenüber traditionellen Diskursen. Konkret: Jelinek nutzt Redewendungen, Sprichwörter, die sie abwandelt, umdreht, verkehrt. Sie zitiert unterschiedlichste Prätexte – aus Literatur, Werbung, Film und Fernsehen – auch hier meist nicht wörtlich, sonder in abgewandelter Form. Sie spielt mit der Doppeldeutigkeit von Sprache. Sie wiederholt und variiert Formulierungen. Sie kalauert. Manche der bereits oben genannten Zitate verdeutlichen dies: Jelinek spricht nicht von einem alter ego sonder von einem alten ego; sie spielt mit der Doppeldeutigkeit des Verbs „überschlagen“, ebenso wie mit der Zweideutigkeit des Wortes „fertig“ (fertig machen – beenden, erniedrigen). Ebenso wortspielerisch heißt es über den Roman im Allgemeinen: „Ich verdiene ja nichts dran, und Sie verdienen es nicht besser.“
Jelinek beschreibt nicht, sie schildert nicht, sie kommentiert und wertet vielmehr, ohne aber einen Kommentar oder eine Wertung direkt vorzunehmen. Jelinek nutzt Sprache auf eine spielerische Weise, die sich selbst kommentiert ohne selbst kommentieren zu müssen. Ihr recht zynischer Nachruf auf Jörg Haider beginnt beispielsweise mit den Sätzen: „Das Entscheidende am Erlöser ist, daß er kommt, daß er im Kommen ist. Nie geht er. Der Erlöser ist unsterblich, weil er im Kommen gewesen ist und nicht gehen konnte, obwohl er schließlich gegangen ist. Aber ein ordentliches Gehen ist das nie! Wird das nie! Der Erlkönig rast so spät, bei Nacht und Wind, über die Straßen, und die Nebel steigen. Vielleicht streckt er eine Hand, die nicht Halt sucht, nach seinem Handy aus, das wie für seine Hand gemacht ist. Der Geliebte, der vom Erlöser erlöst werden möchte, sein Lieblingsjünger, der Johannes, ist dran, ja, am Apparat, wer denn sonst? […] Die Bauernbuben strömen zusammen, von den Höfen strömen sie herbei, in die Discos strömen sie, wo auch sie erlöst, aber keinesfalls enderlöst werden, sie werden ja noch gebraucht, sie bringen nicht viel Erlös, aber erlöst wollen sie werden, der eine will diese Erlösung, der andre eine andre, einen guten Job, eine Überbrückungshilfe, bei der man die Brücke aber verschmäht und in den Fluß springt, man kann schließlich schwimmen!“ Der Text ist natürlich eine einzige Polemik gegen Haider, er gipfelt in der Formulierung, dass Haider (der beim einem Autounfall ums Leben kam) aufs Gas getreten hat „und gern noch mehr Gas geben würde, wenn es da wäre, aber das ist verboten. Er tut es trotzdem. Das Angasen ist sein Hobby, das Gasgeben war schon das Hobby seiner Vorfahren“. Sprache scheint bei Jelinek der Ort zu sein, an dem und durch den sie Identität gewinnt. Indem sie quasi ihre individuelle Sprache neu erfindet, erschafft sie sich erst eine über das fiktionale hinausreichende individuelle Identität.
Nur auf den ersten Blick, so möchte ich zusammenfassend sagen, resultiert aus Jelineks narrativem Identitätsspiel in „Neid“ eine Verschmelzung von empirischer Autorin und Erzählerfigur. Tatsächlich fiktionalisiert sich die Autorin Jelinek soweit, dass die Distanz zwischen ihr und der Erzählerin kaum größer seien könnte. Gleiches gilt, durch eine ebenso inkompetente wie unzuverlässige Erzählerin, für die im Roman propagierten Ansichten und Kommentare. „Privatroman“ heißt also nicht zuletzt, dass Jelinek ihre reale Privatsphäre schützt und wahrt und eben nicht, dass der Text Rückschlüsse auf die Person Jelinek zulässt. Gleichzeitig transportiert Jelinek ihre dezidierten politischen und sozialen Ansichten auf eine andere Textebene. Durch die eigene Fiktionalisierung befreit Jelinek sich auf gewisse Weise vom hier und jetzt eines Essays und befördert das Gesagte auf überzeitliches, quasi zeitloses Niveau. Inwieweit Jelinek tatsächlich aber einen Medienwechsel benötigte, um rücksichtslos zu schreiben, sei dahingestellt. Aber vermutlich hätte Jelinek genau diesen Text in genau dieser Form problemlos bei einem Verlag unterbringen können. Vielleicht sollte man aber, wie bei Jelinek eigentlich immer angebracht, zwei Aspekte nicht außer Acht lassen: Selbstinszenierung und Spiel. So kann man Neid als ein ebensolches Spiel mit literarischer Identität und Nicht-Identität lesen. Einerseits dekonstruiert Jelinek ihre empirische Identität durch ihre Transformation in einen fiktionalen Rahmen, andererseits ist ihre unverwechselbare, individuelle Nutzung – oder besser: Schöpfung – von Sprache ein identitätskonstruierender Akt. Jelinek, so könnte man sagen, wird zu einer körperlosen, aber eben unverwechselbaren Stimme. Sie steht, um den Titel ihrer Nobelpreisrede aufzugreifen, Im Abseits, bleibt aber weithin hörbar.

Vortrag gehalten beim Deutschen Germanistentag 2010 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Jörg Pottbeckers ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Germanistik/Philosophische Fakultät der TU Chemnitz