Ester Saletta: NIKETA STEFA: „Die Entgegensetzung in Hölderlins Poetologie“

Niketa Stefas Band legt in vier Bänden den Akzent auf die logisch-konstruktive Funktion der Entgegensetzung im Bewusstwerdungsprozess des Ich im Werk Hölderlins. In den ersten drei Kapiteln nähert sich Stefa mit einem theoretisch-methodologischen Ansatz dem philosophisch-poetologischen Konzept der contradictio oppositorum, während sie im vierten Kapitel Überschneidungen und Abweichungen zwischen Hölderlins Lyrik und der theatralischen Prosa Elfriede Jelineks analysiert.
Die Vorraussetzung der Untersuchung ist die Übereinstimmung der Dynamik des Bewusstseins und jener der Sprache der Poesie, die aus der Entgegensetzung nach Hölderlins Leitgedanken entsteht: „So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß“. (Hölderlin, Friedrich: „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …“, in: ders.: Sämtliche Werke. FHA XIV, S. 319/StA IV, S. 261). Das der Übereinstimmung immanente Bewusstsein erschöpft sich nicht im erkennenden Rückzug des Selbst, sondern es erschafft sich in einem kreativen Akt der Sprachschöpfung und findet sich in dieser bewussten Manifestation als eine „poetische Individualität“ wieder. Um diese Individualität aufzuspüren und herauszustreichen beschränkt sich die Autorin nicht, wie viele andere Hölderlinforscher/innen, auf die theoretischen oder poetischen Schriften, sondern untersucht sein gesamtes Werk mit einem Ansatz, der poetische Inhalte und Logik verbindet.
Die „poetische Individualität“ lenkt die Aufmerksamkeit auf ein nachidealistisches Konzept des Bewusstseins, verweist aber auch gleichzeitig auf die Beziehungen zwischen der Philosophie Fichtes und Schillers und jener des „Homburger Kreises“ (1797-1806). Damit wird auf die These von Violetta L. Waibel (Hölderlin und Fichte. 1794–1800, Paderborn–München–Wien–Zürich, Schöningh, 2000) Bezug genommen: In Hölderlins Gedanken zum Konzept der Urtheilung und seiner kritischen Ablehnung der Nicht-Übereinstimmung von praktischer und theoretischer Philosophie hinsichtlich der Verwirrung zwischen Sein und Identität in Fichtes Vorlesungen im Wintersemester 1794/1795, sieht Waibel den möglichen Anstoß, den Fichte selbst zu einer Revision seiner Wissenschaftslehre trieb. Diesem Ansatz entspringt auch die gedankliche Ausrichtung von Stefas Untersuchung, die sich nicht nur vom traditionellen Einfluss Fichtes und Schillers auf Hölderlin und andere Persönlichkeiten des „Homburger Kreises“ her bewegt, sondern viel mehr von einer Perspektive, die den Fokus auf die gegenseitige Rezeption der jeweiligen geistigen Arbeit legt. Die Basis dieser Sichtweise liegt im gemeinsamen Streben nach einem Wiederaufbau der ursprünglichen Einigkeit im Bewusstsein, der bei der Entgegensetzung beginnt und sich in ihr immer wieder erfüllt, wie ein schöpferischer und synthetisierender Prozess. Es geht dabei um einen Prozess, der das Fichtesche Konzept der „Bestimmung des Menschen“ – ausgehend von der Idee der gegenseitigen Beziehung, die sich in der Kommunikation verwirklicht – mit Schillers Humanitätsgedanken (Vgl. die Rolle des Chors im Drama „Die Braut von Messina”, S. 54-56), Sinclairs ästhetischer Reflexion und der Idee Zwillings der „höchsten Wechselwirkung“ verbindet und in Hölderlins Credo der „Bestimmung des Menschen überhaupt“ als „Bestimmung aller und jeder Poesie“ (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …: FHA XIV, S. 320/StA IV, S. 263) seinen Höhepunkt findet.
Das zweite Kapitel thematisiert die Entgegensetzung und ihre diachronische Entwicklung im Werk Hölderlins. Stefa stützt sich hier auf, aus ihrer Sicht, grundlegende Themen in Hölderlins Poetik: Die Natur, das Göttliche, das Menschliche und die Sprache. Die Entgegensetzung als „das Gesez,/ Von allen der König, Sterblichen und/ Unsterblichen“ (Das Höchste: FHA XV, S. 355/StA V, S. 285), bewegt sich von der Gegenüberstellung der Identität und der Unterschiedlichkeit innerhalb jedes poetischen Motivs, und tritt als Vermittlerin zwischen dem Bewusstsein des Selbst und des Anderen auf, weil „durch Entgegensetzung Erkenntnis möglich“ ist (Das Höchste: FHA XV, S. 355/StA V, S. 285). Die Entgegensetzung ist insofern konstitutiv für poetische Motive, als sie zwischen Realität und Möglichkeit der Unterscheidung, aber auch als Verbindung, als Botin des Zusammentreffens auftritt. Daraus folgt die Verflechtung von Natur und Kunst, Menschlichem und Göttlichem, Leben und Schrift, der Welt der Griechen und jener des Nordens, Orient und Okzident, Autor und Leser, Herkunft und Nachwelt. Es handelt sich um eine Verflechtung, die vom Zusammenhang der innerlichen Natur jedes Motivs, dem „Grundton“, mit jener fremden Natur, „dem Kunstkarakter“ oder „dem uneigentlichen Tone“ (Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …: FHA XIV, S. 369/StA IV, S. 266) bestimmt ist.
Die Natur des Göttlichen wird als Reinheit und Einfachheit Gottes begriffen, während die eigentliche Natur des Menschen als ursprüngliche Einigkeit seines Geistes und seine Teilhaftigkeit am Zyklus des Lebens. Die Natur hingegen erinnert sich an die unmittelbare Einheit (oder das Eins-Sein) in ihrer zeitlichen Dimension der Unendlichkeit, die Hölderlin als „goldenes Zeitalter“ definiert. Dieses goldene Zeitalter identifiziert er auch mit dem mythologischen Gott Saturn, der den Hintergrund für den Roman „Hyperion“, die Tragödie „Empedokles“ und viele andere Gedichte, vor allem „Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter“, darstellt. Die kreative Kraft der Natur als Präsenz des absoluten Seins zeigt sich in ihrer urtümlichen und heiligen Natürlichkeit als vereinter Raum der Elemente (Luft, Wasser, Erde, Feuer) und ihren vielfältigen Zeichen, dort, wo die Sprache auf die Präsenz des absoluten Seins mit reinen Tönen, mit unaussprechlichen Namen hinweist.
Während das Wechselspiel zwischen der eigenen und der fremden Natur des Göttlichen, des Menschlichen und der Sprache in seiner ersten kreativen Zeit überwiegend ausgeglichen ist, entwirft Hölderlin in einer darauffolgenden schöpferischen Phase, auch erste Homburgher Periode genannt (1798–1800), eine Beziehung von Gegensätzen mit einer äußeren Sphäre und manifestiert so das poetologische Gesetz der Entgegensetzung, das sich ab diesem Zeitpunkt durch Hölderlins gesamtes Werk zieht: „Seze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre, so wie du in dir selber harmonischer Entgegensetzung bist, von Natur aus, aber unerkennbarerweise so lange du in dir selbst bleibst.“ (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …: FHA XIV, S. 315/StA IV, S. 255). Die Wiedererkennung des reinen „Grundtons“ des Göttlichen erfolgt also in der eigenen Entgegensetzung mit dem mittelbaren und vermischten „uneigentlichen Ton“ der Geschichte, der Kunst, des Alltags, dort, wo der Mensch sich seines göttlichen Wesens bewusst wird, durch den Übergang von seiner ihm eigenen Natur – mit den Worten Hölderlins: von „der strebenden Vernunft“ (Hyperion: FHA XI, I, Nr. 30, S. 683/StA III, I, Nr. 30, S. 83.) – zum festsetzenden Verstand. Der Verweis auf den “Grundton” der Natur, genannt aorgisch, entspringt einer Aufgeschlossenheit der Natur für den Geist und des Geistes für die Natur (S. 107) und überwindet dabei in der „Verwandtschaft der Natur mit dem Unsterblichen in uns” das Prinzip der absoluten Tatkraft des Ich bei Fichte und das idealistische Konzept der Natur bei Schiller. Hölderlins Prinzip der Aufgeschlossenheit der Natur gegenüber der ordnenden Kraft des Menschen wird laut Stefa am Ebenbild des Gartens deutlich. Häufig erscheint dieses Bild in Hölderlins poetischem Werk mit unterschiedlichen Bedeutungen. Dabei gelangt man im sprachwissenschaftlichen Bereich vom ursprünglichen Sinn der Wörter, ihrem „Grundton“, zum Bewusstsein durch Artikulierung von Sprache in logischen Gegensätzen und rhythmischen wie grammatikalischen Dissonanzen. In einer weiteren Entwicklungsphase der Entgegensetzung erreicht der Gegensatz zwischen der wahrhaftigen Natur, dem „Grundton“ und dem „uneigentlichen Ton“ in Hölderlins poetischen Motiven einen Höhepunkt, mit der Konsequenz des Verlusts der eigenen Natur in der Natur des Anderen. Diese höchste Form der Entgegensetzung birgt die Gefahr einer Vermischung der Gegensätze, in der die Möglichkeit zu einer dialektischen Begegnung durch die Unordnung unterdrückt wird. Der lebendige Charakter als „Grundton“ der Natur verwildert. Konfrontiert mit der übermäßigen Formalisierung durch den Menschen wird er exzentrisch, während das Göttliche in der Alltäglichkeit vergessen wird und der Mensch in der Isolation sich selbst mit Allmacht versieht. Gleichzeitig werden Geist und Zeichen im sprachlichen Rhythmus austauschbar, so als hätte „der veste Buchstab“ (Patmos: StA II, 1, S. 172, V. 225) einen spirituellen Wert an sich. Stefa macht somit einen völlig neuen Aspekt in der Hölderlinforschung zur Poetologie ausfindig, den sie im dritten Kapitel als „uneigentliche Entgegensetzung“ (S. 223ff) definieren wird.
Gerade diese Entgegensetzung bringt den Menschen, das Göttliche, die Natur und die Sprache auf einem neutralen Grund zusammen, fern von jeglichen dialektischen Gegensätzen. In der letzten Phase wird die Entgegensetzung in ihrer Fähigkeit zur Unterscheidung aufgelöst, um den Menschen nicht mehr bloß über seine eigene Identität, sondern über sein Abbildwesen nachdenken zu lassen. So findet er sich selbst als Rätsel und öffnet sich allen Lebens, so wie sich die Natur als eine alle „Blätter, […] Linien und Winkel (Griechenland: StA II, 1, S. 258, V. 33) aufnehmende erweist, so wie der Übergang von der unmittelbaren göttlichen Einzigartigkeit zur teilbaren und mittelbaren Einheit als mysteriös, nur in einer unendlichen Nähe wahrnehmbar markiert wird, so wie die Sprache auf einen „Behälter” reduziert ist, ein leeres Bild der letzten Turmgedichte, in dem alles offenbar werden kann. Es ist ein Verdienst des Buches in der letzten Untersuchungsphase der Idee der Entgegensetzung diese Poesien, bis jetzt einer poetologischen Analyse mehr oder weniger entbunden, miteinzubeziehen.
Der dritte Teil des Buches ist der poetologischen Analyse von diversen Erscheinungsformen der Entgegensetzung in einer Komplexität von Vergleichungen unterschiedlichen Grades gewidmet. Begriffen als „ursprüngliche Lebendigkeit“ vereinigt Hölderlins Entgegensetzung in sich das Fichtesche Konzept der „Wechselwirkung“ mit Spinozas Theorie des Alllebens durch eine Wiederentdeckung des Heraklitischen Logos in seiner Eigenschaft als „entgegengesetzte Harmonie“ und der Pindarischen Gesetzlichkeit und stellt die „entgegengesetzte Harmonie“ in zeitlicher Hinsicht her. In der Wiederbelebung des griechischen Geistes projiziert Hölderlin seine eigenen Hoffnungen der „Symphonie des Weltlaufs“ (Hyperion: FHA XI, Nr. 26, S. 658/StA III, I, 1, Nr. 26, S. 63) auf seine eigene Zeit, die vom Krieg in Europa gezeichnet ist. Diese Durchdringung der „entgegengesetzten Harmonie“ mit der Lebhaftigkeit der Zeit, lässt seine Poetologie immer sorgfältiger gegenüber dem Genre der Tragödie, in ihrer Eigenschaft der geschichtsbewussten und poetischen Realisierung von dem, was er die „gerade Entgegensetzung“ nennt, auftreten (S. 186 ff.). Die Tragödie behält die Erinnerung an die ursprüngliche Einigkeit in den Bedingungen der Zeit und im gleichen Moment reicht sie über diese hinaus. Je vollendeter die Auflösung der Einigkeit ist, desto vollkommener ist die daraus resultierende ursprüngliche Harmonie, weil die Rekonstruktion dort ansetzt, wo die Teilung passiert ist, nämlich von der Materie ausgehend und nicht nur vom Geist. Die Realisierung der Lebendigkeit der Entgegensetzung ereignet sich also in der Wechselwirkung von harmonischerer Entgegensetzung und einer „materielleren Entgegensetzung“, der „hyperbolischen Entgegensetzung“ (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …: FHA XIV, S. 310/StA IV, S. 250). Der poetische Geist entwirft sich in dieser Wechselwirkung und formt seine Identität in der Veränderung der Zeit. Gleichzeitig setzt er all seine imaginativen, sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten für die Ausarbeitung der Materie ein. Gerade weil der poetische Geist sich mit sich selbst in Beziehung setzen kann und wieder erkannt sein will, muss er seine eigene Verallgemeinerung in Gegenwart und Zukunft zulassen. Diese Verallgemeinerung wird erst durch das, was Hölderlin die „unendliche schöne Reflexion“ nennt, möglich (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …: FHA XIV, S. 322/StA IV, S. 265). Stefa interpretiert das als die „reine in der Unendlichkeit vollendbare Entgegensetzung, als eine «zugleich» durchgängig begrenzende und «durchgängig beziehende und vereinigende» Entgegensetzung“ (S. 169). Eine derartige Entgegensetzung erweist das „Verfahren des poetischen Geistes“ als untrennbar von der sprachlichen Objektivierung, während sie auf diese Weise die Poetologie auf die Vermittlung der poetischen Reflexion zurückwirft. Es ist jedoch eine Vermittlung, die nicht an der sprachlichen Verortung endet, sondern sich in der Empfänglichkeit bewegt. Stefa analysiert Hölderlins Schrift „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …“ nicht nur aus der Perspektive Hölderlins als Autor, sondern auch als Leser seines eigenen Werks. Aus dieser neuen Sichtweise entsteht die Öffnung der poetischen Reflexion des Dichters zu einem „unendlichen Gesichtspunkt“, von dem aus seine Reflexion verstanden und rekonstruiert werden kann.
Diese unendliche Prozessualität findet sich auch in Jelineks theatralischer Prosa Wolken. Heim. wieder, deren Analyse sich der letzte Teil des Buches widmet. Jelineks Zugang ist gleichwohl ein dekonstruktivistischer, der die, von Hölderlin bereits vorhergesehenen, immanenten Gefahren einer kreativen Reflexion des Lesers/Betrachters ausdrückt. Jelineks Rezeption inszeniert somit die Geschichte und den Prozess der Degeneration der kreativen Reflexion und führt alle falschen Rezeptionen der „ursprünglichen Lebendigkeit“ und des Selbstbewusstseins, die Hölderlins Poetik der Entgegensetzung ausmachen, ins Extreme. Wenn Jelinek in ihrer Rezeption die schreienden Stimmen der Nationalsozialisten vereint, so lässt sie sie schlussendlich zu stotternden Wiederholungen verkommen und öffnet damit den Weg für neue Rezeptionen der hölderlinschen Poetologie der Entgegensetzung.
Überzeugend, wirkungsvoll, mit vielen innovativen Gedanken und spannend durch die gute und kohärente Struktur sowie die konsequente Argumentationsfähigkeit, die Hürden der streng disziplinären Katalogisierung hinter sich zu lassen, stellt sich die Untersuchung von Stefa dar und bietet eine brauchbare Synthese für Philosoph/inn/en und Literaturwissenschaftler/innen, die von einer unkonventionellen Perspektive traditionelle Aspekte der Hermeneutik und der Poetologie ergründen wollen.

Dr. Phil. Ester Saletta (Bergamo, Italien)
Italienisch in: RIVISTA DI STORIA DELLA FILOSOFIA, Nr.4/2011, S.795-798.