Heidrun Siller: Gewebtes ohne Gewicht? Elfriede Jelineks „Neid. Privatroman“ und die Ar-beit an einer Geschichtsphilosophie im Angesicht des

Universitäre Arbeit

Die vorliegende Untersuchung sollte in verschiedenen Facetten auf die politische Dimension einer literarisch verhandelten Geschichtsphilosophie aufmerksam machen. Dabei wurde ein Hauptaugenmerk auf die theoretische Basis gelegt, um den Diskurs sowohl in der Narrativik, in der Thematik als auch in der Medialität des Romans Neid freizulegen. In allen Bereichen konnte aufgezeigt werden, dass dem Werk spezifische Mittel und Strategien inhärent sind, die es erlauben, die übergeordnete Thematik der Geschichtlichkeit als Funktion im Gesamtgefüge zu eruieren. Die verschränkte und dicht gewebte Montage diverser Zitate eröffnet ein weites Referenzsystem, das durch die unterschiedlichen Zeitebenen gerade die Zeitlichkeit selbst entstellt. Der Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit konnte indes den Spielraum zu einer geschichtswissenschaftlichen Theorieebene öffnen, die im Paradox von Erinnern und Vergessen versucht, die Geschichte der Schuld aufzuarbeiten. Doch Neid behandelt nicht etwa ein genuines Interesse an einer moralischen Aufarbeitung des Holocausts, sondern bezieht seine Kraft aus dem Oszillieren unterschiedlicher Zeiten, die nicht-linear und nicht-kausal eine neue Sicht auf das Problem der historischen Tradition und Tradierung erlaubt. In allen erwähnten Aspekten wird das Ziel verfolgt, bestehende Strukturen (der Sprache, der Zeit, der Geschichte) aufzubrechen, nicht um einen Wesenskern ausfindig zu machen, sondern vielmehr um Palimpsestcharakter unhinterfragter Konventionen bloßzulegen. Neid. Privatroman verfolgt eine Archäologie des Unhinterfragten und stößt dabei auf den Tod und den Schmerz. Doch erscheinen diese Gegebenheiten nicht als abgeschlossene, tote Objektivationen der Vergangenheit respektive als Relikte, sondern sie werden in ihrer Präsenz und ihrer Wirkmächtigkeit als „lebende Tote“ gezeigt, die unter der Oberfläche aus Angst vor dem absoluten Verschwinden aufgefunden werden können. Doch dieser Prozess verlangt Gewalt, da die glatte Außenseite erst durch metonymische Verschiebung, allegorische Transposition und Selbstthematisierung durchbrochen werden muss. Somit wird der geschichtliche Prozess selbst zum entscheidenden Agens des Schreibens. In Jelineks historisch-materialistischer Orientierung lässt sich allerdings ein Paradox feststellen, insofern der messianische Moment der Erlösung nicht mehr aufscheint. Dadurch lässt sich aber andererseits das 900-Seiten-Konvolut des Textes, so wie die beständige Revision und Wiederholung in endlosen Schleifen erklären: in dem der messianische Horizont als Moment des wahren Erkennens der Geschichte immer weiter verschoben wird, muss die Textproduktion in ihrer Unwissenheit und ihrem Ungenügen immer weiter gehen bis in eine unbestimmte, immer weiter aufgeschobene Zukunft.

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