Manfred Wadsack: Schmerz ist ihr Hobby. Darstellungen von Sexualität und Gewalt in Elfriede Jelineks „Die Klavierspielerin“

Seminararbeit

Gerade im Sexualitätsdiskurs präsentieren sich Asymmetrien zwischen den Geschlechterkonstruktionen in einer ausnehmend klaren Form. Hier setzt Jelinek mittels ihrer mythendekonstruierenden Verfahren an, die scheinbar natürliche Diskurspraktiken und Handlungsweisen grotesk verzerren, um ihren ursprünglich keineswegs natürlichen Gehalt zu decouvrieren und denunzieren. In vorliegender Arbeit werden die ausschließlich destruktiv und krankhaft-pervers inszenierten Darstellungen von Sexualität im Kontext des Romans Die Klavierspielerin funktional entschlüsselt und bewertet, womit gleichzeitig mögliche Vorwürfe hohler Provokation argumentativ zu entkräften sind. In auffälliger Weise bedient sich der Text psychoanalytisch gefärbter Motive, die im Rückgriff auf die Sexologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als mögliche Mythisierung, als männliche Konstruktion und Pathologisierung des weiblichen Geschlechts zur Diskussion gestellt werden. In ihrem Voyeurismus, Sadismus und Masochismus ist die Protagonistin Erika Kohut bestrebt, sich eine männliche Position anzueignen. Die ihren fehlgeleiteten Handlungen implizite Vorannahme ist, dass im Patriarchat nur das männliche Wesen überhaupt Subjekt-Status erlangen kann. Die Tragik all ihrer Befreiungsversuchs liegt darin, dass – so die These des Romans – das als Frau determinierte Wesen diese männliche Position weder erringen kann, noch die reine Umkehr der Verhältnisse, die letztlich nur eine männliche Projektion der Frau und damit einen Mythos darstellt, zu einer positiven Neubestimmung des Weiblichen führt. Die sexologisch-feministische Perspektive wird ergänzt durch einen soziologischen Zugang, stehen doch beide Lesarten für zwei gleichermaßen relevante Sichtweisen in Hinblick auf das selbe Ziel, nämlich die Mikro- und die Makroperspektive auf Erika Kohut, deren Problemlage sowohl in der Auswirkung fataler zwischenmenschlicher Verkettungen als auch in der Darstellung der Einwirkung gesellschaftlicher Kräfte an Plausibilität gewinnt. Letztere manifestieren sich in der Sphäre des Kleinbürgertums, einer im Text auf Wunschverdrängung und Befriedigungsaufschub basierenden Zwischenschicht, für die auch die klassische Musik lediglich ein Konzept bürgerlicher Aufstiegsideologie darstellt, was Erika Kohuts Eskapismus in den idealisierten locus amoenus einer bereits verdinglichten und verkommerzialisierten Kunst zuwiderläuft. Mit sprachlich chirurgischer Präzision werden in Die Klavierspielerin triviale Vorstellungen von Pornographie, selbstloser Mutterliebe, achtbarem Bürgertum, Masochismus, klassischer Musik oder weiblicher Sexualität zerlegt und in ihrer Naivität bloßgestellt. Dabei ist es dem Text nicht daran gelegen, einen erschütternden Einzelfall nachzeichnen. Es werden im Gegenteil typenhafte, karikierte Charaktere entworfen, die sich unter anderem psychoanalytische Klischees aneignen und in überzeichneter Form reproduzieren, um den enthistorisierten und entpolitisierten Mythen ihre Natürlichkeit zu nehmen und damit ihre Geschichte zurückzugeben, um sie solcherart zu dekonstruieren.

PDF-Download der Arbeit

18.9.2013