Universitäre Arbeit
Zur Überraschung und vielfach auch zum Ärgernis der literarischen Öffentlichkeit, wurde Elfriede Jelinek im Jahre 2004 der Literaturnobelpreis verliehen. Jelinek erhielt die Auszeichnung für „[…] den musikalischen Fluß von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen.“ 1) Während Jelinek von dieser Seite außerordentliche schriftstellerische Fähigkeiten bescheinigt und ihre Texte als politisch brisant eingestuft wurden, gibt es viele Stimmen, die diese Einschätzung nicht teilen. Die polarisierende Wirkung von Jelineks Werk zeigte sich bereits an den Diskussionen innerhalb des Gremiums: Aus Protest gegen die Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek zog der emeritierte Literaturhistoriker Knut Ahnlund sich im Oktober 2005 nach 22-jähriger Tätigkeit als Juror aus der Schwedischen Akademie zurück. Zur Begründung schrieb er: „[…] der Nobelpreis 2004 für Elfriede Jelinek [hat] den Wert dieser Auszeichnung auf absehbare Zeit zerstört. Denn hierbei handelt es sich um ein monomanisches, äußerst schmal angelegtes Werk, um eine Textmasse, die ohne einen Ansatz zu künstlerischer Struktur aufgehäuft wurde […] Die Romane oder die Dramen […] von Elfriede Jelinek bestehen aus einem Redefluss, in dem sich willkürlich zustande gekommene Einfälle über zehn oder hundert Seiten erstrecken können, ohne dass etwas damit gesagt wäre […] Erniedrigung, Demütigung, Schändung und Selbstekel, Sadismus und Masochismus sind die Hauptthemen im Werk von Elfriede Jelinek. Alle anderen Aspekte des menschlichen Lebens werden ausgeschlossen. Deswegen ist ihr Werk so dürftig […] Jelinek huldigt dem Krieg der Geschlechter, mitsamt seinem Zug zur aggressiven Einfalt […].“ 2) Knut Ahnlunds Schwierigkeiten mit Jelineks Texten sind symptomatisch für die Jelinek-Rezeption; Jelinek erklärt sich dies dadurch, dass sie „eine Autorin [sei], die zwar Preise und Auszeichnungen bekommt, im Grunde aber nicht adäquat rezipiert“ 3) sei, was dieser das Gefühl gibt, man wolle „einfach nicht, dass Frauen sprechen“ 4). Als Ursache hierfür sieht sie, dass sie sich „als Autorin in einer Weise ein Sprechen anmaße, das für Frauen eben nicht vorgesehen“ sei, weil Schreiben für Frauen immer noch eine „ständige Überschreitung“ 5) sei. Mit der „nicht adäquaten“ Rezeption dürfte Jelinek hauptsächlich die wissenschaftliche Rezeption ihrer Werke meinen, denn ihre Aufführungen sind regelmäßig auf den deutschsprachigen Bühnen vertreten. Dass Jelinek in wissenschaftlichen Kreisen wenig rezipiert wird, kann mit der speziellen Form der aktuellen Texte Jelineks erklärt werden, die durch ihr Etikett als „polyphone Textflächen“ 6), die einer „hypertrophen Intertextualität“ 7) zugrunde liegen, welche eine „Interkryptualität“ 8) erzeugen, abschreckend auf den Rezipienten wirken können. Vermutlich liegt die Ursache nicht ausschließlich in einer Abneigung gegen das, was Jelinek als „weibliches Sprechen“ bezeichnet, sondern ist durch den Umstand zu erklären, dass Jelinek mit ihren postdramatischen Theaterstücken aktuell die Avantgarde im Theaterbetrieb repräsentiert.
Die Texte, die vom Postdramatischen Theater beeinflusst sind, zeugen von einer neuartigen Kunstauffassung, die in Form und Inhalt nicht mehr den traditionellen Ansprüchen an Theatertexte entsprechen. Weil diese Texte vom performativen Gegenwartstheater beeinflusst sind, fällt es gerade Literaturwissenschaftlern 9) schwer, Jelineks Stücke adäquat zu analysieren, denn die neue Ästhetik erfordert eine veränderte Analyse, die mit dem herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Instrumentarium nicht geleistet werden kann. Dies gilt auch für Jelineks Theaterstück Über Tiere, das ebenfalls als ‚Textfläche‘ gestaltet ist. Notwendigerweise erfordert die spezifische Struktur eines Gegenstandes ein Analysewerkzeug, das seiner Struktur entspricht; aufgrund der besonderen Struktur Postdramatischer Theaterstücke, wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit ein Analysewerkzeug entwickelt werden, dessen Angemessenheit erst deutlich wird, wenn der spezifische Unterschied der postdramatischen Dramenform zu dem Theater der geschlossenen und offenen Form herausgearbeitet ist. Dies soll im ersten Kapitel dieser Arbeit geschehen. Hinzu kommt, dass Jelinek komplexe Theorien auf inhaltlicher und formaler Ebene in den Text eingestaltet, ohne deren Kenntnis der Text nicht adäquat nachvollzogen werden kann. Jelinek verschränkt diese Theorien zusätzlich auf eine Weise, dass diese sich entweder gegenseitig verstärken oder dekonstruieren. Eine Darstellung der wichtigsten Theorien und Begriffe die Jelinek aufgreift, die bislang noch nie in die Analyse von Über Tiere mit einbezogen wurden, wird deshalb in die Analyse des Stückes integriert. Um die formale Verknüpfung dieser Theorien und ihrer Wirkungsweise auf den Rezipienten zu beschreiben, wurde im Rahmen dieser Arbeit der Begriff der ‚performativen Dekonstruktion‘ entwickelt. In der Analyse soll schließlich deutlich werden, weshalb Jelinek innerhalb des Postdramatischen Theaters zu verorten ist und was das Besondere dieser Ästhetik ist, die sich durch das Paradox eines ‚Sprechen(s) ohne Sein‘ auszeichnet; gleichzeitig soll deutlich werden, dass dieses Paradox zugleich Jelineks Position innerhalb des Feminismus charakterisiert, die sich dadurch auszeichnet, dass sie im Grunde eine Position jenseits des Geschlechterdiskurses ist.
1) http://www.nobelpreis.org/Literatur/jelinek.htm
2) http://www.dieterwunderlich.de/Elfriede_Jelinek.htm. [Hervorhebung von Verfasser].
3) Elfriede Jelinek: Schreiben als ständige Überschreitung. Wiener Zeitung online, 1.8.2000.
4) Elfriede Jelinek: Schreiben als ständige Überschreitung. Wiener Zeitung online, 1.8.2000.
5) Ebd.
6) Bernd C. Sucher: Die Textflächenfrau. Süddeutsche Zeitung, 07.10.2004.
7) Rainer Just: Zeichenleichen – Reflexionen über das Untote im Werk Elfriede Jelineks, 2007.
8) Ebd. Der Begriff der `Interkryptualität` von Rainer Just wird in dieser Analyse nicht verwendet werden.
9) Theaterwissenschaftler dagegen rezipieren Jelinek meist positiv, interpretieren dann aber vor allem die Inszenierungen.
17.9.2013