Sylvia Paulischin-Hovdar: Wir waren’s nicht! Zur Destruktion des Opfermythos bei Elfriede Jelinek

Dissertation

Abstract

Das Sekundärwerk zu Elfriede Jelineks Œuvre ist umfassend – jedoch mangelt es auch Jahre nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an die umstrittene österreichische Autorin immer noch an plausiblen Lektüre- und Interpretationsvorschlägen. Ziel der vorliegenden Arbeit war es daher, eine neue, interdisziplinäre Herangehensweise zu entwickeln, die den hoch artifiziellen, semantisch heterogenen Texten Elfriede Jelineks gerecht wird. Zwei wesentlichen Komponenten galt es dabei Rechnung zu tragen: zum einen der unübersehbaren inhaltlichen Aufladung der Texte mit historisch-politischen Themen; zum anderen deren ästhetischer Realisierung, die über die explizite Thematisierung hinaus vor allem auf einer intertextuellen, metasprachlichen Ebene stattfindet.
In diesem Zusammenhang wurde die „Destruktion“, die als „Zerstörung“ oder „Umsturz“ das Gegenstück zum erfinderischen, kreativen Akt (gemeinhin die erwartete Leistung von Literatur) darstellt, als zentrales Textherstellungsverfahren der Autorin erkannt. Des Weiteren wurde am Beispiel des österreichischen Opfermythos Geschichte als das Ergebnis diskursiver Konstruktionen beschrieben, das sich in verschiedensten Sprachzusammenhängen – etwa der Literatur und Publizistik, aber auch in trivialen Genres wie der Fernsehwerbung – widerspiegelt. In Weiterführung sprachkritischer österreichischer Literaturtraditionen des 19. und 20. Jahrhunderts (Volkstheater, Karl Kraus, Ödön von Horváth, Wiener Gruppe u. a.) wird mit Jelineks intertextuellen Verfahren der Konstruktionscharakter gesellschaftspolitischer und medialer Diskurse entlarvt, sowie deren scheinbare Naturhaftigkeit im Sinne der Trivialmythentheorien Roland Barthes‘ destruiert, was anhand exemplarischer Textinterpretationen (Burgtheater, Die Kinder der Toten, Das Lebewohl) anschaulich gemacht wurde.
Das Innovative an diesem Projekt ist die Einbeziehung zeitgeschichtlicher Theorien: Faschismus‑, Nationalsozialismus- und Opfermythostheorien wurden in die Interpretation belletristischer Texte integriert, um auf diese Weise zu neuen Deutungsmöglichkeiten zu gelangen.
Im Rahmen des empirischen Kapitels konnte die Destruktion des Opfermythos als Konstante und zentraler Gegenstand in Elfriede Jelineks literarischem Werk erkannt werden – und zwar nicht nur als Thema, sondern auch als Fixpunkt ihrer sprachkritischen Methodik.
Anhand der Ergebnisse wurde die Effizienz der vorgeschlagenen interdisziplinären Herangehensweise demonstriert, die nicht nur die historischen Dimensionen literarischer Texte auslotet, sondern – im Sinne des „New Historicism“ – auch die Textualität von Geschichte hinterfragt.

24.6.2914

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