Björn Hayer: Das Verräumen der Sprache. Bericht zur internationalen Tagung „Jelineks Räume“ im Österreichischen Kulturforum Warschau

Tagungsbericht

Die Tagung Jelineks Räume, organisiert von Monika Szczepaniak (Universität Bydgoszcz), Agnieszka Jezierska (Universität Warschau), Pia Janke (Forschungsplattform Elfriede Jelinek der Universität Wien) fand vom 19.03.2015 bis 21.03.2015 am Österreichischen Kulturforum in Warschau statt und befasste sich mit den ästhetischen Entwürfen raumgestalterischer Dimensionen im Œuvre der Österreichischen Literaturnobelpreisträgerin.
Bereits mit ihrem Eröffnungsvortrag „Ihr Geld lebt auf einer schönen Insel.“ Topos und globale Welten in Elfriede Jelineks neueren Dramen stellte Dagmar von Hoff (Mainz) ein wesentliches Charakteristikum der postdramatischen Topografien Jelineks heraus: Sie kennzeichnete, ausgehend von Strahlende Verfolger und Die Kontrakte des Kaufmanns, die Verflüssigungstendenz als Signatur der jüngeren Bühnenstücke, woran insbesondere auch die Vorträge von Artur Pełka (Łódź) und Monika Szczepaniak (Bydgoszcz) zu Landschaftsentwürfen anknüpften. Wohingegen auf der einen Seite immaterielle Kapitalströme die Flüchtigkeit und Abstraktion einer globalisierten, spätmodernen Welt erkennen ließen, dienten der Autorin Wasser- und Schneelandschaften zu philosophischen Reflexionen über Gender, Spur und Gedächtnis. Um die Deixis der Theaterautorin in ihren Widersprüchen und Relativitäten zu erfassen, deutete Ulrike Haß (Bochum) deren Bühnenräume vor dem Hintergrund des aristotelischen Ortsverständnisses, ausgehend von der Stoffbeziehung zwischen Krug und Wein. Allen voran an der intertextuellen Verarbeitung der Aischylos-Tragödie in Die Schutzbefohlenen träten „Räume des Äußersten“ zutage, die stets aufs Neue fluide Grenzziehungen zu reflektieren scheinen.
Dass Jelineks Räume allen voran „postoptischer“ Natur seien, belegten anschaulich die Beiträge von Uta Degner (Salzburg) und Inge Arteel (Brüssel). Indem erstere die produktive Rezeption der Werke Valie Exports innerhalb der dramatischen Anlagen Jelineks nachvollzog, markierte sie deren ästhetische Formationen als polyvalente Diskursräume und verwies auf das breite Bezugsnetz in deren literarischem Kunstraum. Auch Arteel verfolgte in ihrem Beitrag Szenisches Schreiben. Theatralität und Räumlichkeit in Jelineks ‚Bühnenessay „Rein Gold“ einen ähnlichen Ansatz, indem sie Jelineks dramatische Settings als „Denkräume“ sowie als „mehrschichtige[r] intertextuelle[r] Echor[ä]um[e]“ zu veranschaulichen suchte.
Neben den Versuchen, adäquate Beschreibungsparadigmen zwischen Vertikaler und Horizontaler, Fläche und Dreidimensionalität zu finden, elaborierte die Diskussion somit zunehmend das Bewusstsein für ausstrahlende Diskurstopografien, welche ideologische Versatzstücke aus den Bereichen der Konsum- und Marktgesellschaft mit gleichsam neokolonialen und faschistischen Elementen amalgamieren.
Dass solcherlei Überlagerungen respektive Schichtungen zu charakteristischen Ausgrenzungsmechanismen beitragen, machten mehrere Referenten an Jelineks Die Schutzbefohlenen fest. So nutzte Silke Felber (Wien) in ihrem Vortrag „Die von des Bachs Ufern, des Meeres Küste, den Waldbüschen der Heimat Verscheuchten“. Ver-ortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ Terminologien von Agamben, Foucault und der Geschichtswissenschaften, um das Bild des Anderen zwischen In- und Exklusion zu verhandeln und somit eine Lokalisierung von Randgruppen in den Werken Jelineks vorzunehmen.
Bezieht die Autorin Spezifika der Hate Speech in ihre Texte ein, demaskiere sie, gemäß Brigitte E. Jirkus (Valencia) Auffassung, Gewaltverhältnisse in der Sprache. Worin Macht und Ohnmacht des Sprechens liegen, ließe sich insbesondere am chorischen „Wir“ beobachten, dem die Referentin exemplarisch in Die Schutzbefohlenen nachging. So grenzte sie die erste Person Plural allen voran als „Wir“ der Empörten ein und negierte dessen allzu offensichtliche Zuschreibung als Repräsentationspronomen der Asylsuchenden.
Die Sprachräume zeugen von Herrschaftsstrukturen, schließen in unterschiedlichen Aggregatzuständen (Wasser, Schnee, Eis) Verdrängtes ein und verstehen sich, wie Verena Meis (Düsseldorf) darlegen konnte, als Deponien für „taubes Material“, das „abgeräumt, ‚verräumt‘, ausgelagert wurde und (noch) keine neue Bewandtnis erhielt.“
Während Jelineks literarische Ausarbeitungen demzufolge in analytischer Präzision Marginalisierungsprozesse und Abräume widerspiegelten, stellte sich in den Gesprächen zugleich die Frage heraus, inwiefern deren zugrunde liegenden sprachlichen Konstruktionen nicht auch Alternativräume zuließen. Entgegen der Annahme, Jelineks Sprachspiele demonstrierten einzig und allein entleerte Signifizierungen, argumentierte Joanna Drynda (Poznan) in ihrer Interpretation Gefühlsräume im Prosawerk Elfriede Jelineks am Beispiel des Romans „Gier“ für eine Untersuchung der emotionalen Tiefenstruktur jenseits der Zeichenoberfläche. Sie vertrat die These, die Werke der in Wien und München lebenden Literatin changierten permanent zwischen „Ausleben und Unterdrücken von Gefühlen“, die ihrerseits neue Gender-Kodifizierungsebenen zu erkennen gäben.
Die Vorträge von Alexandra Tacke (Bremen/ Bydgoszcz), Björn Hayer (Koblenz-Landau) und Agnieszka Jezierska (Warschau) erweiterten die Raumphänomenologie um materielle, immaterielle und rezeptionsspezifische Aspekte. Indem Erstere Jelineks Prinzessinnendrama Der Tod und das Mädchen V (Die Wand) im Zeichen einer kulturgeschichtlichen Anknüpfung an die Traditionslinie der Wandmetaphorik deutete, lotete sie die damit verbundenen Gender-Artikulationen aus. Dass die topografischen Anlagen immerzu in Zusammenhang mit Jelineks geschundenen „Kippfiguren“ (Annuß) stünden, war ebenso Gegenstand in Hayers Analyse des echoartigen Cyberspaces in Jelineks dramatischem Tableau. Diese seien vor allem als Zwischenreiche abgesonderter Geschichtsreste und vergangenheitsloser Untoter zu verstehen. Abgerundet wurden die wissenschaftlichen Werkexegesen durch Jezierskas reflexive Darlegung der polnischen und insbesondere refraktären Wahrnehmung bzw. Verarbeitung durch weibliche und männliche Gegenwartsschriftsteller. Welche Schwierigkeiten und Potenziale sich im Hinblick auf eine sowohl sprachliche als auch kulturelle Translationsfähigkeit ergeben, war auch Gegenstand der Podiumsdiskussion am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Hierin setzten Ulrike Haß, Rita Thiele (Chefdramaturgie am Schauspielhaus Hamburg), Karolina Bikont (Übersetzerin), Łukasz Chotkowski (Dramaturg, Regisseur) und Maja Kleczewska (Regisseurin) unter der Moderation von Pia Janke praktisch-inszenatorische mit wissenschaftlich-theoretischen Zugriffen auf Jelineks facettenreiche Bühnensettings in Beziehung.
In Summa ist zu konstatieren, dass sich diese grundsätzlich einer Repräsentionslogik entziehen. Vielmehr performieren sie mehrfachcodierte Diskursfolien, hinterfragen moralische und gesellschaftliche Grenzzonen und setzen Impulse für eine Dramatik der bedeutungskonstitutiven Raumästhetik. Die daraus resultierenden Möglichkeiten für das Theater könnten zukünftig noch Anlass für weitere Vertiefungen des Themas sein.

8.4.2015

Björn Hayer ist Akademischer Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau). Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Mainz. Seit 2012 Arbeit an der Promotion: „Wir sind das große Google“. Existenzielle Medien – Mediale Existenzen. Zur Rezeption der digitalen Medien in der Gegenwartsliteratur“.