Julia Prager: Stottern und Schweigen. Topoi einer intermedialen Poetik der Exophonie

Forschungsprojekt

Abstract

Ausgangspunkt des Vorhabens ist die von der japanisch-deutschsprachigen Autorin Yoko Tawada ausgearbeitete „Poetik der Exophonie“. Tawadas primäres Interesse für den Begriff der Exophonie ergibt sich aus den Valenzen der Vorsilbe „exo“. So entwickelt Tawada Spielformen der im Präfix angezeigten Bewegung des (Her)Aus, die sie in einem grundlegend körperlichen Sprachverständnis als (metaphorisches wie buchstäbliches) „Heraus-Treten“ wendet: als Heraustreten der Stimme aus der Schrift, als solches aus einer Sprache (zumeist der Muttersprache) oder − in der radikalsten Formulierung − als Heraustreten aus der Sprache selbst.
Insofern dieser Wendung ein theatraler Gestus eingeschrieben ist, nimmt das Forschungsvorhaben die intermediale Verfasstheit von Tawadas Exophonie zum Anlass, deren Implikationen auf das Gegenwartstheater und dessen Texte zu übertragen, um die spezifischen exophonen Inszenierungsweisen auszuloten. Im Hinblick auf die zahlreichen Inszenierungen, die sich explizit mit Flüchtlingsthematiken und Migrationsbewegungen auseinandersetzen, ist eine dahingehende Forschungslücke festzustellen. Für deren Bearbeitung werden zwei exophone Spielformen als Topoi einer intermedialen Poetik der Exophonie ausgewiesen: Stottern und Schweigen. Damit einher geht die Annahme, dass Stottern und Schweigen sowohl als Bezeichnungen für eine körperliche als auch für eine mediale, mitunter technische, „Störung“ fungieren. Der Begriff der Störung kommt im medientheoretischen Diskurs auch im Kontext der Reflexion jener Momente zum Tragen, in welchen die Materialität hervortritt und sich so dem angeblich transparenten Charakter des Mediums widersetzt. Insofern Tawada Stottern und Schweigen als „Sprachstörungen“ verhandelt, die das Sprechen mit Akzent auszeichnen, muss infrage gestellt werden, welche Folgen eine derart klangliche „Störung“ der „Nationalsprache“ für Konzeptionen von „ZuGehörigkeit“ nach sich zieht.
Für eine exophone Inszenierung und dahingehende Analyse reicht es nicht aus, jene Situationen auszumachen, in welchen eine solche Störung im Zusammenspiel von Text und „Sprachkörper“ in der Inszenierung ostentativ wird, sondern insbesondere wird es darum gehen, das jeweilige Potential einer künstlerischen Intervention im Prozess sozialer Transformation zu exponieren. Daran schließt die These, dass das exophone Spiel mit der Störung, das in je spezifischen Einsätzen von Stottern und Schweigen zur Aufführung kommt, deren „Feststellbarkeit“ selbst zum Spieleinsatz macht. Impliziert die Störung eine klare Negativbewertung, so lässt sich zeigen, dass das exophone Theater ihre Resignifikation performiert: Störungen werden als normative Konzeptionen ausgestellt und in ihrer Beweglichkeit neu gefasst.
Für die Untersuchung der Texte und Projekte (Jelineks Die Schutzbefohlenen sowie deren Inszenierung von Stemann, Tawadas Mein kleiner Zeh war ein Wort, Rimini Protokolls Situation Rooms, Rabih Mroués Riding on a Cloud und Bisan Abu-Eishehs Love Speech) stellen sich folgende Leitfragen: Wie gestaltet sich das grundlegende Verhältnis von Theatertext und Aufführung im Hinblick auf Exophonie? In welcher Weise wird Störung als bewegliche Konzeption inszeniert, die „Sprachstörungen“ nicht mehr an einzelne Körper bindet, sondern zu einer geteilten Erfahrung macht? Welcher theoretische Gewinn − jenseits eines Nachweises von Authentifizierungsstrategien −lässt sich aus diesem Ansatz für die Reflexion aktueller Tendenzen der Aufführungspraxis ziehen, geflüchtete Personen oder „Experten des Alltags“ auf die Bühne zu holen? In welcher Weise reflektiert das „Hybrid-Medium“ Theater in seiner exophonen Wendung auf die ins Spiel geholten „Neuen Medien“, wenn im Sinne einer auf Beweglichkeit abzielenden Strategie künstlerischer Intervention eine gewisse Reversibilität von „hier“ und „dort“ in die Live-Situation des Theaters gesetzt wird, um die Bedeutung von „Zugehörigkeit“ im Medienzeitalter zur Disposition zu stellen?

7.10.2015

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